Zitterpartie am Bosporus
Seit dem mysteriösen Militärputsch Mitte Juli kommt der Staat am Schnittpunkt von Europa und Asien keinen Tag aus den politischen Schlagzeilen. Die Frage ist: Bleibt die offensichtliche Wirtschaftsdynamik des 79-Millionen-Einwohner-Landes erhalten?
Mit der Ausrufung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 hatte Mustafa Kemal, genannt Atatürk („Vater der Türken“), dem Volk ein neues Identitätsbewusstsein eingehaucht: Nach dem im Ersten Weltkrieg besiegelten Untergang des ehemals mächtigen Osmanischen Reichs, das ab dem zwölften Jahrhundert vom asiatischen Anatolien bis zum europäischen Balkan sowie nach Arabien und Nordafrika expandierte, war es dem Revolutionär gelungen, den türkischen Nationalstolz durch einen laizistischen, westlich orientierten Staat und eine wirtschaftliche Reorganisation neu zu definieren.
Der jüngst vereitelte Putschversuch und die darauf folgenden drastischen Repressionen haben die Atatürk’sche Trennung von Kirche und Staat sowie die mühsame Entwicklung in Richtung Demokratie arg beschädigt. Und der zunehmende Islamismus verunsichert die gesamte Region, zumal die Türkei im krisengeschüttelten Syrien immer öfter mitmischt und gleichzeitig die kurdische Minderheit drangsaliert. Wie sich die überraschenden Winkelzüge von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf die Verlässlichkeit des Nato-Mitglieds auswirken, ist noch nicht abzuschätzen – genauso wenig wie die wirtschaftlichen Folgen. Schließlich erlebten wichtige Einnahmequellen aus dem Tourismus und der Exportwirtschaft als Folge der Terroranschläge und der Verstimmung mit Russland bereits im Vorjahr massive Einbrüche, die das traditionell leistungsbilanzdefizitäre Land weiterhin belasten.
Potenzielles Wachstum
Immerhin konnte die neue Türkei seit 1923 zu einem wichtigen Player im Wirtschaftsraum zwischen Europa und Asien aufsteigen – eine Entwicklung, die sich unter Erdogans konservativ-demokratischer Regierung seit 2002 vorderhand fortsetzte: Das reale Wirtschaftswachstum erreichte 2010, also kurz nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, nochmals beeindruckende 9,2 % und lag im Vorjahr bei respektablen 4 % – bei einem Pro-Kopf-BIP-Wachstum zu Kaufkraftparitäten von 4,8 % auf 15.200 Euro. Die Arbeitslosenrate blieb zwar bei rund 10 % hängen, die Inflationsrate konnte dagegen von schwindelerregenden 47 % 2002 auf zuletzt 7,7 % gedrückt werden (Quelle: wiiw).
Entscheidend sei freilich die demografische Entwicklung, wie Konstantin Bekos, Regionalmanager Südosteuropa der Wirtschaftskammer Österreich, gegenüber dem Börsen-Kurier betont: „Das Durchschnittsalter der türkischen Bevölkerung liegt weiterhin unter 30 Jahren. Das zeigt die Power, die in dem Land schlummert.“ Ein Faktum, das auch Amalia Ripfl, Fondsmanagerin des 15 Jahre alten Espa Stock Istanbul der Erste-Sparinvest, wichtig erscheint, wie übrigens die 30 %ige Erhöhung des Mindestlohns zu Jahresbeginn: „Der noch junge türkische Konsumgüterhandel mit lokalen Pendants zu Billa und Spar boomt – da gibt es Potenzial.“ Das goutieren die Investoren, wie die relativ hohe Bewertung der zu 100 % im Streubesitz befindlichen, börsennotierten BIM Birlesik Magazalar AS (ISIN: TRE BIMM00018) zeigt (siehe Kasten): Mit einem Kurs-/Gewinn-Verhältnis von rund 24 liegt sie klar über dem aktuellen Schnitt von neun.
Auch das Finanzsystem besticht, wie Ripfl dem Börsen-Kurier erklärt: mit rund 40 % Indexgewichtung und einer starken Kernkapitalquote von durchschnittlich 13 % (Europa: 11) sowie einer noch niedrigen, offiziellen Rate an notleidenden Krediten in Höhe von rund 3,4 %.
Oder die Bauindustrie, die Speerspitze Erdogans, wie der ehemalige Außenhandelsdelegierte Bekos die bedeutende Konjunkturstütze der Türkei bezeichnet: „Die Türkei hat sich nach China nun zum größten Land mit den meisten international aktiven Generalunternehmern entwickelt, die Türken sind flink, zuverlässig und haben sich jede Menge Know-how angeeignet.“ Und sie werden vom Präsidenten höchstpersönlich gefördert – bei seinen häufigen Auslandsreisen, zu denen er gerne mit starken Delegationen aufbricht, oder mit seinen Prestigeprojekten wie dem Bau des neuen Großflughafens nahe Istanbul, der mit 150 Mio Passagieren dreimal so viele Kunden abfertigen soll wie der aktuelle Atatürk-Airport, der Errichtung von Krankenhäusern und Brücken sowie dem intensiven Ausbau des Schienenverkehrs. Dass die Staatsverschuldung dennoch bei geringen 35 % liegt, ist auch den in der Regel über Public-Private-Partnership (PPP) abgewickelten Projekten zu verdanken, die den Staatshaushalt nur in jährlich kleinen Dosen belasten.
Fakt ist, dass die türkische Börse nach einem 21 %igen Kurseinbruch infolge des Putschversuchs mittlerweile 12 % aufgeholt hat und sich der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar mit 2,90 mittlerweile cirka auf dem Niveau vom Jahresbeginn bewegt – entscheidende Indikatoren also eine relative Stärke beweisen.
Für Unternehmer oder Investoren, die sich im Land am Bosporus engagieren wollen, ist es allerdings wohl ratsam, zuzuwarten. Wer dagegen bereits engagiert ist, sollte vielleicht nichts überstürzen – denn der „kranke Mann am Bosporus“, wie das Osmanenreich vor gut 100 Jahren von den europäischen Mächten verspottet wurde, hat schon so manche Herausforderung bravourös überstanden.
Autorin: Mag. Caroline Millonig