Finanzindustrie bleibt Schottland treu
Mit dem Brexit wird sich auch die Rolle Edinburghs, dem zweitwichtigsten Finanzzentrum Großbritanniens nach London, ändern. Ein wichtiger Finanz-Hub wird es für Experten dennoch bleiben.
Brexit hin oder her: Für viele Experten steht fest, dass London auch nach dem bevorstehenden Austritt aus der EU das wichtigste Finanzzentrum Großbritanniens – und im Übrigen auch Europas – bleiben wird. Allerdings werde auch nicht alles beim Alten bleiben. Das zeigt allein schon die Ankündigungen wichtiger Player, wie etwa die von Goldman Sachs, Teile des Geschäfts sowie eine beträchtliche Zahl an Arbeitsplätzen in EU-Standorte auszulagern. Das vorläufige Experten-Fazit: London muss seine Rolle als europäischer Finanzstandort neu definieren.
Ähnliches kann auch von Edinburgh behauptet werden. Die schottische Hauptstadt gilt als das zweitwichtigste Finanzzentrum Großbritanniens. Nicht weniger als 86.000 Menschen arbeiten in der knapp 500.000 Einwohner zählenden Metropole in der Finanzwirtschaft, weitere 55.000 in unterstützenden Industrien. Weiters zeichnet die Branche für 7 % der schottischen Bruttowertschöpfung verantwortlich und unterstützt die kleinen und mittleren Unternehmen des Landes mit einem Kreditvolumen von rund 9 Mrd Euro. Damit nicht genug: Die hiesige Finanzindustrie verwaltet ein Kundenvermögen in der Höhe von 1,14 Bio Euro.
Langes Erbe
„Das Erbe Edinburghs als bedeutendes britisches Finanzzentrum, reicht bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurück“, erklärt Adrian Cammidge, Sprecher der britischen Kapitalanlagegesellschaft Kames Capital, deren Hauptquartier sich in der schottischen Hauptstadt befindet, im Gespräch mit dem Börsen-Kurier. Tatsächlich haben sich vor allem große Versicherungen, wie etwa Standard Life oder der Kames Capital-Vorgänger Scottish Equitable Life Assurance Company, bereits vor mehr als hundert Jahren in Edinburgh etabliert. In der jüngeren Vergangenheit haben sich zudem viele große Vermögensverwaltungsgruppen in der Stadt niedergelassen.
Was macht die Stadt so attraktiv für die Finanzindustrie? Zum ersten sicherlich das positive Geschäftsklima – im Ranking der Plätze, wo es am einfachsten ist Geschäfte zu machen, liegt Großbritannien laut einer aktuellen Studie der Weltbank derzeit auf dem 7. Platz. „Da die Gehälter
ähnlich hoch sind wie in London ist Edinburgh ein attraktiver Arbeitsplatz für Top-Talente aus ganz Großbritannien sowie auch der ganzen Welt“, sagt Cammidge. Allerdings sei für viele die Lebensqualität in der schottischen Hauptstadt größer. Nachsatz: „Die Stadt bietet viele Vorteile, die auch mit London verbunden werden, wie ein pulsierendes Nachtleben, ein umfangreiches kulturelles Angebot sowie hervorragende Schulen und Universitäten – bei einer deutlich geringeren Bevölkerungsgröße.“
Welche konkrete Rolle der Finanzstandort in Zukunft – konkret nach dem Brexit – spielen wird, steht derzeit noch nicht fest. „Wir sondieren die beste Lösung für unsere Kunden“, sagt John McGuigan, Managing Director Customer Operations bei Standard Life. Zur Debatte stehe etwa, ob man die Operationen in Dublin künftig verstärken werde, um die gleichen Rechte wie vor dem Brexit zu haben und damit vor allem ein verlässlicher Partner für die europäischen Kunden zu bleiben. Dabei gelte es vor allem eines zu kommunizieren: Es spiele keine Rolle, ob wir in Großbritannien tätig sind oder nicht.
UK bleibt globaler Top-Anbieter
Bei Kames Kapital geht man davon aus, dass Edinburgh auch nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU ein wichtiges Finanzzentrum bleiben wird. „Große Player wie die Bank of Scotland (RBS), Standard Life, Aegon sowie wir werden weiterhin über Niederlassungen in der Stadt verfügen“, so Cammidge. Großbritannien werde damit auch in Zukunft ein wichtiger globaler Anbieter von Finanzdienstleistungen bleiben und auch in Kontinentaleuropa eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang dürfe man auch den starken Binnenmarkt, der zu den am weitesten entwickelten der Welt zählt, nicht vergessen.
Aber auch der Experte räumt ein, dass sich die Player vor Ort infolge des Brexits gezwungen sehen könnten, Teile ihres Geschäfts in die EU auszulagern. Allerdings könnten Faktoren wie das etablierte und hochqualitative Angebot an Arbeitskräften, die unterstützende Infrastruktur sowie das lange Erbe als Finanzstandort nicht über Nacht anderswo erfunden werden. „Einem Unternehmen dürfte es alles andere als leicht fallen, den Mitarbeitern einen Umzug an einen anderen europäischen Standort schmackhaft zu machen“, so Cammidge.
Autor: Patrick Baldia (redaktion@boersen-kurier.at)