Kann ein europäischer Kapitalmarkt einen Brexit überleben?

In jenen weit zurückliegenden Tagen, als Großbritannien noch vollwertiges Mitglied der Europäischen Union war, verkündete EU-Kommissar Jonathan Hill die Einleitung einer neuen Initiative, die als „Kapitalmarktunion“ bezeichnet wurde.

Fast 60 Jahre Bauen an Europa hatten noch immer nichts hervorgebracht, was einem Binnenmarkt für Investitionen auch nur nahekam, und in vielen EU-Ländern waren die Kapitalmärkte nach wie vor schwach und unterentwickelt. Das lobenswerte Ziel, so schrieb Hill, sei es, „die Hindernisse für grenzüberschreitende Investitionsflüsse zu ermitteln“ und „herauszuarbeiten, wie man sie Schritt für Schritt überwinden kann“.

Seitdem ist viel Zeit vergangen, und Hill bezieht inzwischen seine Euro-Rente. Doch sind größere Fortschritte schwerlich erkennbar. Tatsächlich befindet sich das Projekt inzwischen möglicherweise im Rückwärtsgang, da nun der Brexit den einzigen gut funktionierenden Kapitalmarkt zu stören und zu spalten droht, den Europa inzwischen besitzt: London, auf das die meisten für europäische Unternehmen am Markt aufgebrachten Finanzmittel entfallen.

Europas Problem wird verschlimmert

Diese voraussichtliche Spaltung ist höchst bedauerlich, insofern als sie das von der Europäischen Kommission identifizierte reale Problem verschlimmert. Im Vergleich zu den USA stützt sich Europa stark auf die Finanzierung über Banken. In den USA ist der Markt für Unternehmensanleihen die Quelle von fast drei Vierteln der von Unternehmen aufgebrachten Finanzmittel, und Bankkredite machen das verbleibende Viertel aus. In den 27 verbleibenden EU-Ländern ist das Verhältnis nahezu genau umgekehrt. In Großbritannien liegt das Verhältnis bei etwa 50:50. Wie so oft ist das Land irgendwo in
der Mitte des Atlantiks positioniert.

Es gibt strukturelle und historische Gründe für die von den EU-Banken gespielte unterschiedliche Rolle, und niemand sollte erwarten, dass die europäischen Kapitalmärkte dem Muster der nordamerikanischen Märkte genau folgen. Beim sogenannten „rheinischen Kapitalismus“ stehen die Banken ihren Unternehmenskunden oft sehr nahe und halten manchmal Beteiligungen an ihnen. Doch im Gefolge der Finanzkrise ist die Wichtigkeit diversifizierter Finanzierungsquellen für die Unternehmen deutlich geworden.

Kreditklemme?

Die Gesamtfinanzierung der EU-Unternehmen fiel von 112 % vom BIP 2006 auf 106 % im Jahre 2016, was auf eine steile Verringerung der Bankkredite zurückzuführen ist, die real um ein Fünftel zurückgingen. Auch in den USA gingen die Bankkredite etwas zurück, da die Banken versuchten, ihre Bilanzen wieder in Ordnung zu bringen und ihre Kapitalstärke wiederherzustellen. Eine strengere Bankenregulierung machte dies unvermeidlich, und die Verbesserung der Eigenkapitalquoten im Gefolge der Krise war in erheblichem Maß durch eine Drosselung der Kreditvergabe bedingt. Doch waren in den USA die Kapitalmärkte in der Lage, das auszugleichen, und die Gesamtmenge der den Unternehmen zur Verfügung stehenden Finanzmittel stieg, was zu einer robusteren Konjunkturerholung führte.

Europa zu unflexibel?

In Europa haben die Kapitalmärkte diese lebenswichtige Rolle, den Schock der Kreditrationierung durch die Banken aufzufangen, nicht gespielt. Die EZB hat ihr Möglichstes getan, um zu helfen – mit speziellen Programmen, die Banken finanzieren, damit sie Kredite an KMUs ausreichen. Diese Programme waren bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Beim aktuellen Programm wurden Gelder in Höhe von 740 Mrd. Euro abgerufen – Geld, das innerhalb der nächsten drei Jahre zurückgezahlt werden muss. Doch legen derartige Programme der EZB eine Belastung auf und beschränken ihre Fähigkeit, unkonventionelle Finanzierungsmaßnahmen einzustellen und die Geldpolitik zu normalisieren. Viel besser wäre es, wenn die europäischen Kapitalmärkte flexibler wären und einem breiteren Spektrum an Unternehmen offen stünden.

Es gibt Fortschritte

Es gibt inzwischen bescheidene Anzeichen, dass ein Wandel hin zu einer marktgestützten Finanzierung im Gange ist. Die Banken selbst haben es geschafft, neues Eigenkapital aufzubringen, was eine Hilfe darstellt. Und Europa hat Minischritte zur Förderung einer stärkeren Standardisierung der Marktverfahren unternommen. So unterstützt die EU-Kommission etwa die Wiedergeburt eines europäischen Verbriefungsmarktes, und die Befugnisse der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde werden derzeit gestärkt. Mitgliedstaaten, die bisher gezögert haben, die Kontrolle über ihre Märkte an eine europaübergreifende Behörde abzugeben, verstehen zunehmend, dass es so etwas wie einer europäischen SEC bedarf, um gemeinsame Standards sicherzustellen.

Nach Brexit – quo vadis?

Doch sind die Fortschritte langsam, und der Brexit ist ein weiteres Hindernis. Die größten Pools europäischer Liquidität und europäischen Kapitals befinden sich weiterhin an den Ufern der Themse, und noch weiß niemand, wie sich ein britischer Rückzug aus der EU auf sie auswirken wird. Investoren und Banker warnen, dass eine Aufspaltung dieser Pools durch Einführung von Kontrollen für grenzübergreifende Aktivitäten zwischen Großbritannien und der EU die Sache der Kapitalmarktunion zurückwerfen und die Kapitalaufnahme für Unternehmen aus der EU verteuern wird. Bislang jedoch steht die Brexit-Politik – auf beiden Seiten des Ärmelkanals – einer marktfreundlichen Lösung im Weg.

Großbritannien versucht verständlicherweise, einen möglichst umfassenden Marktzugang für in London ansässige Firmen aufrechtzuerhalten. Michel Barnier, Europas Verhandlungsführer in Sachen Brexit, beharrt darauf, dass, wenn Großbritannien seinen Übergang zum Status eines „Drittlandes“ tätigt, nur eine begrenzte Gleichwertigkeit bei der Regulierung möglich sei. Und das, so Barnier, würde Finanztransaktionen über den Ärmelkanal hinweg beschränken.

Dringliches Ziel: Einigung

Angesichts zunehmender Anzeichen einer beginnenden Verlangsamung der europäischen Konjunktur – gleichlaufende Indikatoren legen nahe, dass die Industrieproduktion in 2018 deutlich zurückgegangen ist – gewinnen die Argumente für die Einigung über einen Brexit-Vertrag und die neuerliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Kapitalmarktunion an Stärke und Dringlichkeit. Der heute zuständige EU-Kommissar Valdis Dombrovskis äußerte Ende April in London, dass die „Bausteine“, um „unseren Unternehmen zu helfen, den Abschied von Europas größtem Finanzzentrum aus dem Binnenmarkt besser zu bewältigen“, Anfang des kommenden Jahres vorliegen sollten. Dies ist ein lobenswertes Ziel, kommt jedoch möglicherweise zu spät und reicht nicht aus.

Autor: Howard Davies ist Chairman der Royal Bank of Scotland. Aus dem Englischen von Jan Doolan,© Project Syndicate 1995 – 2018