Rechtfertigen spektakuläre Gewinne spektakuläre Kurse?

Die Börsen-Kurier-Analyse von Wirtschaftsnobelpreisträger 2013 Robert J. Shiller.

Seit seinem Tiefstand im März 2009 ist der US-Aktienmarkt, gemessen am monatlichen, realen (inflationsbereinigten) S&P Composite Index (oder S&P 500) um das 3,3-Fache angestiegen. Gemäß des von mir seit langem propagierten zyklisch angepassten Kurs-Gewinn Verhältnisses (CAPE) ist der US-Aktienmarkt damit der teuerste der Welt. Ist dieser Kursanstieg gerechtfertigt oder erleben wir eine Blase?

Man könnte meinen, dieser Anstieg sei gerechtfertigt, da sich die realen Quartalsgewinne je Aktie des S&P 500 über den ungefähr gleichen Zeitraum, nämlich vom 1. Quartal 2009 bis zum 2. Quartal 2018, um das 3,8-Fache erhöhten. Tatsächlich lag der Kursanstieg leicht unter den Gewinnen.

Freilich war 2008 ein ungewöhnliches Jahr. Wie sieht es aus, wenn wir das Gewinnwachstum nicht seit 2008, sondern seit der Amtsübernahme der Regierung von Donald Trump im Jänner 2017 berechnen? In diesem 20-monatigen Zeitraum stiegen die monatlichen realen US-Aktienkurse um 24 %. Das reale Gewinnwachstum lag vom 1. Quartal 2017 bis zum 2. Quartal 2018 etwa gleich hoch bei 20 %.

Angesichts der Tatsache, dass Kurse und Gewinne sich beinahe im Verhältnis eins zu eins nach oben bewegen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass man sich auf dem US-Aktienmarkt vernünftig verhält und diese Daten einfach die zunehmende Stärke der US-Wirtschaft widerspiegeln. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass Gewinne höchst volatil sind. Tendenziell kehren sich plötzliche starke Anstiege innerhalb von ein paar Jahren um. Das ist in der Geschichte des amerikanischen Aktienmarktes auch öfter als ein Dutzend Mal in dramatischer Art und Weise passiert.

Gewinne unterscheiden sich von den meisten anderen ökonomischen Variablen, da sie im Wesentlichen als die Differenz zweier Werte definiert sind: nämlich als Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben. Ein über etliche Jahre anhaltendes schnelles Gewinnwachstum kann daher leicht zu einer Rückkehr zum langfristigen Trend oder sogar zu unterdurchschnittlichen Werten führen. Tatsächlich lagen die Gewinne je Aktie im S&P 500 während des 4. Quartals 2008 im negativen Bereich, was teilweise auf die finanzkrisenbedingten Abschreibungen zurückzuführen war. Freilich hielt diese Phase nicht lange an (und ihre Bedeutung wird auch in Frage gestellt).

1914 bis 1916
Den Markteilnehmern müsste eigentlich bewusst sein, dass sie auf Gewinnwachstum nicht überreagieren sollten, aber manchmal gerät das aufgrund irreführender, aber beliebter Narrative in Vergessenheit. Man denke an ein Beispiel, das sich vor einem Jahrhundert ereignete. Obwohl die realen Jahresgewinne im S&P Composite innerhalb von nur zwei Jahren um das 2,6-Fache anstiegen, – nämlich von Trendwerten im Jahr 1914 auf ein Rekordhoch 1916 -, erhöhten sich die Aktienkurse von Dezember 1914 bis Dezember 1916 nur um 16 %. Warum reagierte der Markt darauf nicht so wie er es in letzter Zeit tat?

Zeitungsberichte aus dieser Zeit geben einige Hinweise. Der wichtigste Faktor war, dass die Menschen diesen Gewinnanstieg zu Beginn des Ersten Weltkriegs der abrupten und panischen Nachfrage nach amerikanischen Waren aus Europa und anderen Teilen der Welt zuschrieben. Man glaubte, die Gewinne würden nach Kriegsende auf ein Normalmaß zurückkehren.  Außerdem herrschte eine weit verbreitete Wut über die hohen Profite in Kriegszeiten, während Männer, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden, ihr Leben riskieren mussten. Das bewog viele Menschen – nicht nur Amerikaner – dazu, sich für eine „Vermögensabgabe zu Kriegszwecken“ einzusetzen. Mit diesem nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geratenen Begriff war die hohe Besteuerung plötzlicher Gewinnanstiege gemeint. Tatsächlich führte man in den USA zum Zeitpunkt des Kriegseintritts im April 1917 zum ersten Mal eine über dem Vorkriegsniveau liegende Strafsteuer auf Unternehmensgewinne ein.

„Roaring Twenties“
Die Aktienkursbewegungen waren allerdings nicht immer so rational begründet wie im Jahr 1916.  In den „Roaring Twenties” fiel die Marktreaktion auf steigende Gewinne weitaus positiver aus. Nach dem Ende der Rezession in den Jahren 1920 und 1921 stiegen die aufgrund dieses Abschwungs belasteten realen jährlichen Gewinne in den Jahren bis 1929 um mehr als das Fünffache und die realen Aktienkurse erhöhten sich um beinahe den gleichen Wert – nämlich um mehr als das Vierfache.

In den 1920er Jahren hatten wir es mit einem anderen Narrativ zu tun. Es handelte sich nicht um eine Geschichte über einen Krieg in Übersee, sondern um eine Geschichte der Wiedererstehung nach einem „Krieg zur Beendigung aller Kriege“, der in sicherem Abstand in der Vergangenheit lag. Es war die Geschichte eines beflügelnden Geists der Freiheit und individualistischer Erfüllung. Leider ging das nicht gut aus und sowohl Aktienkurse als auch die Unternehmensgewinne brachen am Ende des Jahrzehnts auf katastrophale Weise ein.

Dotcom-Boom
Von 1982 bis zum Jahr 2000 stiegen die realen Aktienkurse um das 7,5-Fache, während sich die jährlichen Gewinne nur verdoppelten. Das Ende dieser Phase wurde als der Dotcom- oder Internet-Boom bekannt, wobei allerdings der größte Teil des Kursanstiegs dem Narrativ der technologiegetriebenen „New Economy“ voranging und die sinkende Inflation dieser Entwicklung Vorschub leistete. Bis 2003 allerdings fielen sowohl die realen Gewinne als auch die Aktienkurse um fast die Hälfte.

2003 bis 2007
Im Anschluss daran, von 2003 bis 2007, während einer Phase der allmählichen Erholung nach der Rezession des Jahres 2001, verdreifachten sich die realen Gewinne je Aktie. Doch der reale Kursanstieg des S&P 500 belief sich auf weniger als das Doppelte, weil die Anleger offenbar nicht bereit waren, ihre Fehler aus den Jahren vor 2000 zu wiederholen, als sie auf das rasche Gewinnwachstum überreagierten. Dennoch endete diese Phase mit der Finanzkrise und einem weiteren Zusammenbruch der Gewinne und Aktienkurse.

Und was bewegt die Börsen heute?
Das bringt uns nun zum gegenwärtigen Boom der Gewinne und Aktienkurse. Offenbar glauben die Anleger, dieser Boom werde anhalten oder sie sind zumindest der Meinung, die anderen Anleger glauben, er würde anhalten. Aus diesem Grund treiben sie in einer dramatischen Reaktion auf den Gewinnanstieg die Aktienkurse in die Höhe.

Der Grund für dieses Vertrauen ist schwer festzumachen, aber er liegt wohl darin, dass die Öffentlichkeit ihre gesunde Skepsis gegenüber Unternehmensgewinnen verlor und dass es an einem beliebten Narrativ fehlt, das steigende Gewinne mit vorübergehenden Faktoren in Beziehung setzt. Die Rede von einem sich ausweitenden Handelskrieg und anderen möglichen Aktionen eines sprunghaften US-Präsidenten scheint einfach nicht stark genug mit der Rede von Gewinnprognosen verknüpft zu sein – zumindest noch nicht.

Ein Bärenmarkt könnte ohne Vorwarnung oder offensichtlichen Grund oder auch in Verbindung mit der nächsten Rezession eintreten, wodurch die Unternehmensgewinne womöglich negativ beeinflusst werden. Eine derartige Entwicklung ist nicht sicher, aber sie würde in ein historisches Muster an Überreaktionen auf Gewinnveränderungen passen.

Autor Robert J. Shiller ist Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2013, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Yale sowie Autor des gemeinsam mit George Akerlof verfassten Buchs Phishing for Phools: Manipulation und Täuschung in der freien Marktwirtschaft. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier, © Project Syndicate 1995 – 2018