Stehen Zinssenkungen bevor?

Viele Zeichen deuten derzeit auf mögliche Zinssenkungen weltweit hin.

Michael Kordovsky. Beruft man sich auf eine schon mehrere Jahre zurückliegende Untersuchung des Chefökonomen der Bank of England, Andrew Haldane, dann ist das Zinsniveau in den entwickelten Ländern erneut auf dem Weg Richtung „5.000e-Jahre-Tief“!

Binnen eines Monats gingen laut Bloomberg (am 12.6.2019) die Renditen zehnjähriger US-Treasuries um 34 Basispunkte auf 2,12 %. Bei deutschen Bundesanleihen mit gleicher Laufzeit war es ein Rückgang um 19 Basispunkte auf -0,24 %, und selbst bei laufzeitkongruenten spanischen Staatstiteln war es ein Sturzflug um 40 Basispunkte auf 0,57 %. Der für 10jährige Fixzinsbindungen bei Baukrediten relevante 10-Jahres-Euribor-ICE-Swapsatz brach seit Jahresbeginn von rund 0,80 auf 0,26 % ein.

Konjunkturschwäche

Bereits von Jänner auf April hat der IWF seine globale Wachstumsprognose um 0,2 %-Punkte auf 3,3 % nach unten revidiert. Doch gegenüber April gibt es eine weitere Änderung: Bezüglich der Unsicherheiten rund um den Handelsstreit mit den USA folgte für China eine erneute Abwärtsrevision der Wachstumsprognosen um je 0,1 %-Punkte für 2019 und 2020 auf nun mehr je 6,2 bzw. 6,0 %.

Im Euroraum deuten die jüngsten Einkaufsmanagerdaten nur noch auf ein Quartalsabschnittswachstum von 0,2 % hin. Während sich Chinas Industrie an der Kontraktionsgrenze bewegt, ist im Euroraum laut Daten des IHS Markit Eurozone Composite Index (PMI) im Mai die Industrieproduktion das vierte Mal hintereinander rückläufig. Der Auftragseingang der Privatwirtschaft im Euroraum stagniert. So schwach sah es mit der Nachfrage zuletzt vor sechs Jahren aus. Für 2020 und 2021 haben die Volkswirte der EZB ihre Wachstumsprognosen um je 0,2 bzw. 0,1 %-Punkte auf je 1,4 % nach unten revidiert, während sie für heuer ein Wachstum von 1,2 % erwarten. Bezüglich globaler Inflations- und Konjunkturtrends auffällig sind jüngste Schwächeanfälle bei konjunktursensiblen Rohstoffen. Die Preise für Kupfer und Nickel waren in den vergangenen zwölf Monaten je 18 bzw. gut 22 % rückläufig. Selbst die Ölpreise verloren binnen eines Monats in zweistelliger Größenordnung – trotz der Spannungen zwischen den USA und dem Iran.

Zinssenkungen in Vorbereitung?
Entsprechend auch die Kernaussage von EZB-Chef Mario Draghi anlässlich der Pressekonferenz zur EZB-Ratssitzung vom 6. Juni: „Wir gehen inzwischen davon aus, dass die Leitzinsen der EZB mindestens über die erste Hälfte des Jahres 2020 und in jedem Fall so lange wie erforderlich auf ihrem aktuellen Niveau bleiben werden, um eine fortgesetzte nachhaltige Annäherung der Inflation an ein Niveau von unter, aber nahe 2 % auf mittlere Sicht sicherzustellen.“ Insidern zufolge sei die EZB sogar für eine Zinssenkung offen, sollte sich das Wirtschaftswachstum im Jahresverlauf abschwächen.

Als erste Notenbank der entwickelten Länder senkte in diesem Zyklus am 8. Mai die Neuseeländische Zentralbank ihre Cash Rate um 0,25 %-Punkte auf 1,50 %. Am 4. Juni folgte Australien mit einer Senkung um 0,25 %-Punkte auf 1,25 %. Von dieser Seite her hat bereits ein rückläufiger Zinstrend eingesetzt, der umso mehr ernstzunehmen ist, zumal auch aus der Fed einschlägige Signale kommen: Fed-Präsident Jerome Powell kündigte nämlich am 4. Juni auf einer Notenbank-Konferenz in Chicago eine angemessene Reaktion auf die Auswirkungen des Handelskonfliktes an und es folgte eine neue Formulierung des Zinskurses, nämlich, dass man „es bei den Zinsen geduldig angehen will“. Es sieht ganz danach aus, als liefen bereits Vorbereitungen einer neuen expansiven Anti-Krisen-Geldpolitik, sowohl in Europa als auch in den USA.

Volatilere Aktienmärkte

Auf der Strecke bleiben die Sparer. Alleine von 2010 bis 2019 entging deutschen Sparern durch die Mini-Zinsen ein Ertrag von 650 MrdE. Auf der anderen Seite werden Anleihen- und Immobilienblasen immer weiter angeheizt. Zuerst werden die Renditen von Staatsanleihen im oberen Investmentgrade-Bereich vor allem bei mittleren Laufzeiten bis hin in den Zehnjahresbereich zunehmend negativer. Die Kreditzinsen für Immobilien- und Wertpapierkredite sinken weiter. Carrytrades (ein kreditfinanzierter Kauf riskanter Hochzinsanleihen) werden attraktiver und die Immobilienspekulation angeheizt.

Laut Daten von Eurostat stiegen die durchschnittlichen Hauspreise im Euroraum im 4. Quartal 2018 um 4,2 %. In Deutschland und Österreich war es ein Plus von je 4,6 bzw. 4,9 % und in Luxemburg und Portugal lagen die Anstiege bei jeweils 9,3 %. Kurzfristig können im Einklang mit den sinkenden Zinsen die Anleihen- und Immobilienpreise (beide Anlagekategorien sind im Prinzip „Zinsinstrumente“) noch weiter steigen. Aktien hingegen sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits tun sinkende Zinsen den Dividendentitel gut, auf der anderen Seite mehren sich die Rückschläge mit negativen Konjunktur- und Unternehmensnachrichten, was zumindest eine höhere Volatilität bedeutet.

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