Der Kampf um die Arktis

Das ewige Eis als Schauplatz des Wettbewerbs der globalen Mächte.

René Tebel. Auslöser dieser Entwicklung, die am Ende des 20. Jahrhunderts allmählich einsetzte, bildeten wissenschaftliche Forschungsergebnisse und die internationale Neuregelung der Seegrenzen. Von zahlreichen wissenschaftlichen Studien und Modellen getragen, wird allgemein davon ausgegangen, dass Klimawandel und Erderwärmung das Arktische Meer ab den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts im Sommer eisfrei machen. Eine Konsequenz daraus wäre das Entstehen zweier schiffbarer Passagen.

Die eine verliefe dann von den USA über Kanada durch das Eismeer nach China und Japan (die Nordwestpassage), die andere, die Nordostpassage, von Europa über Skandinavien und entlang der sibirischen Küste nach Fernost. Gegenüber den heutigen Schiffswegen über Panamakanal bzw. Suezkanal würden die beiden Routen den Fahrtweg um ein Viertel der Strecke verkürzen.

Andere wissenschaftliche Forschungen lassen wiederum davon ausgehen, dass unter dem arktischen Meeresgrund bis zu 13 % der globalen Reserven an Erdöl und 30 % der unentdeckten Erdgasvorräte lagern, nebst weiterer Bodenschätze.

Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass sich die fünf Anliegerstaaten des Arktischen Meeres (Norwegen, Dänemark, Kanada, die USA und Russland) sowie China bereits heute auf die Zeit vorbereiten, wenn Seeweg und Ausbeutung der Bodenschätze ökonomischen Gewinn und Einfluss versprechen. Der „Eröffnungszug“ ist bereits im Gange und wird durch Forschungsergebnisse, Sachverständige und Juristen ausgetragen.

Unklare Seegrenzen
Gab es im 20. Jahrhundert die Tendenz, die Polgebiete zwischen den Anliegerstaaten in Sektoren aufzuteilen, so bildet heute das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ oder UNCLOS) von 1982 die Grundlage. Küstenstaaten können seither neben ihren eigentlichen Hoheitsgewässern (die 12-Meilen-Zonen) eine „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ) für sich geltend machen. Darüber hinaus ist eine weitere Ausdehnung über den Festlandsockel möglich.

Hierfür muss aber vor einer UN-Kommission der wissenschaftliche Beweis erbracht werden, dass der Meeresboden und sein Untergrund die natürliche Verlängerung des entsprechenden Festlandes bilden.

Mit wissenschaftlichen Ergebnissen will Russland daher seinen Anspruch untermauern, dass der Lomonossow-Rücken, ein rund 1.700 km langes Unterwasser-Gebirge, als Fortsetzung der Eurasischen Landmasse anzusehen sei.

Dieser Haltung widerspricht Dänemark, das den Lomonossow-Rücken als Fortsetzung Grönlands ansieht, das wiederum (noch) zu Dänemark gehört. Als Beweis führt Kopenhagen die Geologie der unbewohnten Hans-Insel (auch Tartupaluk-Insel) an, die zwischen Ellesmere Island und Grönland liegt.

Zwischenstaatliche Dispute wegen unklarer Seegrenzen betreffen ebenso Kanada und Dänemark wegen der Hans-Insel, wie auch die USA und Kanada wegen unklarer Abgrenzung in der Beaufortsee. Hinzu kommt die unglückliche rechtliche Situation von Spitzbergen, die Svalbard-Inselgruppe. Der Svalbard-Vertrag aus dem Jahr 1920 stellt die Inselgruppe unter nicht-militärische norwegische Kontrolle und gewährt den 46 Unterzeichnerstaaten (darunter China, Russland, den Vereinigten Staaten sowie Ländern wie Indien und Saudi-Arabien) das Recht zu fischen und Handel zu treiben.

Neben der Frage der Territorial- und Seegrenzen treiben die Anliegerstaaten und globalen Mächte zahlreiche weitere strategische und politische Ziele an, die mitunter extrem unterschiedlich sind.

Entwicklung der Seerouten, Exploration und Kontrolle
So betrachtet Kanada etwa die zivile und militärische Kontrolle der Nordwestpassage als seine Kernaufgabe. Dies schließt Such- und Rettungsmissionen ein. Zudem zielt die kanadische Politik darauf ab, eine volle Souveränität über die Nordwestpassage auszuüben.

Gerade hier macht Kanada besonders sein mächtiger Nachbar USA zu schaffen, der mit Alaska nur über einen verhältnismäßig geringen Küstenanteil am Arktischen Meer verfügt. Deswegen leitet Washington auch mehr der Ansatz, die „Freiheit der Meere“ einzufordern. Das bekommt Kanada zu spüren, wenn die USA und einige andere Staaten die kanadische Hoheit einfach ignorieren und die Nordwestpassage wie internationale Gewässer behandeln.

Im Ringen um Einfluss in der Arktis ist gegenwärtig aber Russland der aktivste Akteur. Wladimir Putin brächte eine in den Sommermonaten befahrbare Nordostpassage entlang der sibirischen Küsten Transiteinnahmen, eine höhere Bedeutung im globalen Handel und neue Exportwege für seine Rohstoffe.

Daher zielt die russische Politik darauf ab, bereits heute Maßnahmen zu ergreifen, um die Nordostpassage als Seeweg zu etablieren und das nördliche Sibirien zu entwickeln. Umso mehr, als im Festlandsockel vor Sibirien enorme Gas-, Ölreserven und Kohlenwasserstoffvorkommen vermutet werden und Sibiriens erwärmende Permafrostböden den Abbau reicher Vorkommen an Bodenschätzen leichter ermöglichen, zu denen Diamanten, seltenen Metalle, Nickel- und Kobalt und Kupfer zählen.

Ein kühner Plan ist dabei der Einsatz schwimmender Atomkraftwerke entlang der sibirischen Küste, um entlegene Siedlungen und Unternehmen mit Strom zu versorgen. Die erste Plattform wird im nächsten Monat von Murmansk nach Petev gezogen werden.

Zudem soll 50 km nördlich von Arkhangelsk ein neuer Tiefseehafen angelegt werden, der ab 2035 durch die in Bau befindliche Belkomur-Eisenbahnlinie mit den Industriegebieten des Urals und Sibiriens verbunden werden soll.

Auf der Halbinsel Jamal arbeitet seit 2017 die JAMAL LNG, die vor der Halbinsel gefördertes Erdgas verflüssigt. Von dem 27-Mrd-USD-Gemeinschaftsunternehmen des privaten Energieunternehmens Novatek (50,1 %), Total (20 %), CNPC aus China (20 %) und dem Seidenstraßen-Fonds (9,9 %) ging erst Ende Juni 2019 die erste Charge Flüssiggas auf der Nordostpassage nach Japan ab. Novatek hat auch 15 LNG-Tanker bestellt und plant bereits ein 20-Mrd- USD-LNG-Projekt auf der Gydia-Halbinsel: Arctic LNG2

Auch das „ferne“ China spielt mit
Wenngleich China keine Grenze zum Arktischen Ozean besitzt, bezeichnet es sich dennoch als „arktisnaher Staat“ und will – laut Weißbuch – bei der künftigen Erforschung und Erschließung des Nordpols mit den Anliegerstaaten kooperieren, das Prinzip der Nachhaltigkeit beachten, gemeinsam Profit machen und nebenher auch seine Abhängigkeit von der Seeroute um Malakka weiter verringern.

Insbesondere zwei Länder erscheinen für Pekings Avancen besonders anfällig: Russland, das nach der Okkupation der Krim mit westlichen Sanktionen belegt wurde, und Grönland. Grönland sieht seine Zukunft vermutlich in der Unabhängigkeit von Dänemark. China kann diesen Plan als willkommener Investor für den Aufbau einer Infrastruktur, der Förderung von Bodenschätzen und bei der wissenschaftlichen Zusammenarbeit unterstützen.

So steht also die ökonomische Ausbeutung der Arktis und des Arktischen Meeres kurz bevor. Ob dies in Kooperation erfolgt oder sich ein neuer Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzung entwickeln wird, ist noch nicht in Stein gemeißelt – lässt sich aber dennoch bereits erahnen.

Grafik: René Tebel