Die neue Strategie der EZB im Check

Die EZB muss ihre Strategie in Punkto Inflation überdenken – eine Analyse von Prof. Lucrezia Reichlin von der London Business School.

Die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat mit ihrer jüngsten Ankündigung einer längst überfälligen Überprüfung der Strategie der Europäischen Zentralbank hohe Erwartungen geweckt. Das Ergebnis dieser Überprüfung wird das erste wichtige Signal dafür sein, wie Lagarde die Zentralbank leiten will – und wie die EZB wohl die anhaltend niedrige Inflation in der Eurozone bekämpfen wird.

Ein Blick zurück
Die Welt von heute unterscheidet sich gravierend von der des Jahres 2003, als die EZB-Strategie zum letzten Mal überarbeitet wurde und auch die Institution selbst hat sich seit der Finanzkrise des Jahres 2008 tiefgreifend verändert. Angesichts einer weltweiten Rezession und der anschließenden Schuldenkrise in der Eurozone in den Jahren 2011 bis 2012, verabschiedete sich die EZB von ihrem herkömmlichen Ansatz der passiven Deckung des Liquiditätsbedarfs der Banken – der ursprünglichen Reaktion auf die Finanzkrise. Stattdessen begann die EZB, zur Lockerung der Geldpolitik und der Stabilisierung des Finanzsystems ihre Bilanz aktiv zu gestalten.

Darüber hinaus hat die EZB ihre operativen Instrumente radikal erweitert. Im Jahr 2014 führte sie negative Zinssätze für Bankeinlagen bei nationalen Zentralbanken ein und begann, dem Markt in Form der „Forward Guidance“ zukunftsgerichtete Leitlinien hinsichtlich ihrer künftigen Politik zu liefern. Und seit 2015 kauft die EZB Vermögenswerte auf (bekannt als quantitative Lockerung oder Quantitativ Easing; QE), wodurch sich ihre Bilanz im Vergleich zu 2008 verdoppelte. Schließlich hat die EZB im Rahmen des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus größere aufsichtsrechtliche Verantwortlichkeiten gegenüber europäischen Banken übernommen.

Wie geht es weiter?
Die erste Phase der EZB-Strategieüberprüfung wird eng gefasst sein und sich auf die Festlegung des Inflationsziels, die Rolle der Geldmengenaggregate als Signale mittel- bis langfristiger Inflation und die Kommunikation konzentrieren. Diese Phase soll in der ersten Hälfte des Jahres 2020 abgeschlossen sein. Anschließend wird eine zweite Phase der Reflexion folgen.

Jede aussagekräftige Überprüfung dieser Aspekte muss eine objektive und kritische Analyse des Jahrzehnts seit der Finanzkrise umfassen, während dessen die durchschnittliche Inflationsrate in der Eurozone deutlich unter dem von der EZB angestrebten Ziel von „unter, aber nahe 2 %“ und auch niedriger als in den USA und dem Vereinigte Königreich lag. Insbesondere sollten bei der Überprüfung die Kosten eines systematisch unter dem Ziel liegenden Inflationsniveaus im Vergleich zu anderen politischen Optionen quantifiziert werden.

Thema Inflation
Hinsichtlich der Unfähigkeit der EZB, ihr Inflationsziel zu erreichen, bestehen mindestens drei Hypothesen. Die Hypothese der „strategischen Fehler“ besagt, dass die EZB im Zeitraum zwischen 2012 und 2014 aggressivere Strategien hätte umsetzen sollen – insbesondere im Bereich QE. Wenn diese „Fehler“ auf eine unzureichend definierte EZB-Strategie zurückzuführen waren, wird man die Strategie anpassen müssen; waren sie das Ergebnis politischer Beschränkungen, sollte der Entscheidungsfindungsprozess der Zentralbank geändert werden.

Die zweite Erklärung konzentriert sich auf die unzureichende Koordination der Fiskal-, Finanz-, und Geldpolitik in der Eurozone. Im Jahr 2009 ging die Lockerung der Geldpolitik beispielsweise mit einer verspäteten Bereinigung des Bankensektors und Sparmaßnahmen einher. Das führte zu einer zweiten Rezession, die die EZB zu spät erkannte. Und in den Jahren 2012 bis 2014 war eine neutrale fiskalpolitische Haltung sowohl mit unzureichenden geldpolitischen Anreizen als auch mit einem Schuldenabbau im Bankensektor verbunden.

Beide Hypothesen legen nahe, dass es der EZB besser ergangen wäre, hätte sie sich eindeutig einem symmetrischen quantitativen Ziel im Hinblick auf Inflation oder das nominale BIP verschrieben. Implizit hätte das beispielsweise bedeutet, im Jahr 2011 die Zinssätze als Reaktion auf die zeitweilig inflationäre Wirkung höherer Ölpreise nicht zu erhöhen (wie es die EZB tat). Überdies hätte es bedeutet, mit dem Ankauf von Vermögenswerten statt 2015 im Jahr 2012 zu beginnen und ihn 2018 nicht auslaufen zu lassen.
  

Die von einigen Zentralbankern favorisierte dritte Hypothese lautet, dass die anhaltend niedrige Inflation in der Eurozone Ausdruck struktureller Faktoren wie nachteiliger demografischer Verhältnisse, niedriger Wachstumserwartungen und der damit verbundenen steigenden Nachfrage nach sicheren Vermögenswerten ist. Diese Erklärung zieht also Parallelen zwischen der Eurozone und Japan, wo es auch mit aggressiven geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen seit 2013 nicht gelungen ist, die Wirtschaft aus ihrer zwei Jahrzehnte dauernden Phase niedriger Inflation zu befreien.

Befürworter der strukturellen Sichtweise argumentieren, dass es für die politischen Entscheidungsträger der EZB besser wäre, ein niedrigeres Inflationsziel anzupeilen, als zu versuchen, einen geldpolitischen Anreiz zu entwickeln, der letztendlich zu einer Inflation der Vermögenspreise führt und die Finanzstabilität gefährdet. Schließlich, so lautet ihr Argument implizit, bestehen kaum Anhaltspunkte dafür, dass eine stabil niedrige Inflation das Gemeinwohl gefährdet.

Diese dritte Hypothese kann jedoch zu zwei alternativen politischen Empfehlungen führen. Die erste besteht in einem Ansatz der „Untätigkeit“ der mit einer Abwärtskorrektur des EZB-Inflationsziels im Einklang mit der tatsächlichen Inflation einhergeht. Eine derartige Vorgehensweise ist gerechtfertigt, wenn die politischen Entscheidungsträger davon ausgehen, dass das potenzielle Produktionswachstum in der Eurozone unabhängig von der bisherigen fiskal- und geldpolitischen Stabilisierungspolitik zurückgegangen ist. Die zweite Option besteht, entsprechend der ersten beiden Hypothesen, darin, eventuell in Abstimmung mit der Fiskalpolitik die akkommodative Geldpolitik aufrechtzuerhalten. Dieser Ansatz wäre richtig, kämen die politischen Entscheidungsträger zur Ansicht, dass eine anhaltende Krise der Realwirtschaft letztendlich das Produktionspotenzial beeinträchtigen würde.

EZB übervorsichtig?
Die meisten Analysen deuten darauf hin, dass die Politik der EZB im letzten Jahrzehnt im Allgemeinen zu vorsichtig war. Selbst wenn man die strukturelle Erklärung für die Trendinflation als richtig anerkennt und die Ansicht vertritt, dass Inflationserwartungen unabhängig von früheren politischen Maßnahmen gesunken sind, führt die „Untätigkeits-Option“ wohl zu einer weiteren Abwärtsspirale bei den Erwartungen und womöglich in eine deflationäre Falle. Man muss dann die Kosten berücksichtigen, die sowohl mit den relativen Preisanpassungen als auch mit dem Effekt verbunden sind, die der sich daraus ergebende Aufwärtsdruck auf den Realzinssatz auf die private und öffentliche Schuldenlast hätte. Diese Kosten wären wohl höher als jene im Zusammenhang mit dem Risiko für die Finanzstabilität aufgrund zu „vieler Aktivitäten“, die man aber in jedem Falle unter Einsatz aufsichtsrechtlicher Instrumente in den Griffe bekäme.

Die neue Strategie der EZB muss sich auf jene Art der quantitativen Analyse stützen, die zur Beantwortung dieser Fragen erforderlich ist. Allerdings ist auch anzuerkennen, dass die Ökonomen noch immer weit davon entfernt sind, die Dynamik einer niedrigen Inflation zu verstehen. Angesichts dieser Unsicherheit sollte es sich die EZB zum Ziel setzen, solide Strategien zu verfolgen, die in einer Vielzahl von Szenarien den geringsten Schaden verursachen.

Lucrezia Reichlin ist ehemalige Forschungsdirektorin bei der EZB und heute als Wirtschaftsprofessorin an der London Business School tätig. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier, © Project Syndicate 1995 – 2020

Foto: Pixabay / homer0922