Geldpolitische Wende in den USA und Europa?

Warum es trotz starker US-Leitzinssignale wieder ganz anders kommen könnte.

Michael Kordovsky. Die Inflationsrate in den USA erhöhte sich von 1,4 % im Jänner bis Mai kontinuierlich auf 5 %. Allerdings spielten hier Basiseffekte beim Ölpreis eine Rolle. Ohne den volatilen Komponenten Energie und Nahrungsmittel betrug die Inflationsrate 3,8 %. Dienstleistungen und andere Produkte wurden aber ebenfalls teurer. Die Angst vieler Experten liegt darin: Wenn die Fed zu spät auf Inflation reagiert, muss sie bei überhitzter Konjunktur umso stärker die Leitzinsen anheben, was dann eine Rezession auslösen würde. Sie forderten von Fed-Chairman Jerome Powell klare Handlungsbereitschaft. Die Reaktion des Fed-Chefs bei der jüngsten Zinsentscheidung im Zuge der anschließenden Pressekonferenz war eine Art Kompromiss und hat nur für kurze Zeit zu einer Korrektur am T-Bond-Markt in den USA geführt. Der Offenmarktausschuss hat mit der Diskussion über eine Drosselung der Anleihenkäufe begonnen, Powell lässt sich alle Optionen offen und sich schon gar nicht zu einer Entscheidung drängen. Er persönlich geht nämlich nur von einem zwischenzeitlichen Inflationspeak aus, aber nicht von einer langfristigen Inflation. Vielmehr sollte sich die Produktion der gestiegenen Nachfrage anpassen und somit die Preissituation entspannen. Änderungen bei Anleihenkäufen werden sehr weit im Voraus bekanntgegeben. Auch sei die Zinswende noch immer in weiter Ferne, obwohl sich mittler-weile die Zinseinschätzungen verändert haben.

US-Futuresmärkte preisen Leitzinsanhebungen ein
Nimmt man die Wirtschaftsprognosen der einzelnen Mitglieder des Federal Open Market Comittee (FOMC; der Offenmarktausschuss) in den USA, so liegt in der BIP-Wachstumseinschätzung der Medianwert für heuer bei 7,0 %, jedoch für 2022 und 2023 nur noch bei je 3,3 bzw. 2,4 %. Bei der Arbeitslosenquote gehen die Fed-Experten davon aus, dass sie von 4,5 % im heurigen Jahr bis 2023 auf 3,5 % zurückfällt. Die PCE(Personal-Consumption-Expenditures)-Inflation soll von 3,4 % im laufenden Jahr auf 2,1 % im Jahr 2022 zurückgehen und bis 2023 auf 2,2 %, ehe langfristig der Wert bei 2 % liegen sollte. Die Fed Fund Rate sollte 2022 noch immer auf 0,1 % verharren, ehe 2023 ein Anstieg auf 0,6 % folgt und langfristig 2,5 % angesetzt werden – so die Medianwerte der Prognosen.

Während heuer noch alle Mitglieder des Offenmarktausschusses unveränderte Leizinsen sehen, gehen für 2022 fünf von einer Anhebung auf 0,375 % (Mitte der Bandbreite) und zwei von 0,625 % (Mitte der Bandbreite) aus. Für 2023 rechnen bereits 13 von 18 Mitgliedern mit Zinsanhebungen, davon zwei auf 1,625 % (Mitte der Bandbreite).

Nun stellt man diesen Erwartungen die aus den Futures-Märkten abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten für Zinsanhebungen gegenüber. Das CME-Fed-Watch-Tool gibt dazu genauere Auskunft: Die Einschätzung der Leitzinsentwicklung bis zur Fed-Sitzung am 14.12.2022 sagt mehr als 1.000 Worte: Vor einem Monat (27. Mai) lag die Wahrscheinlichkeit gleichbleibender Leitzinsen noch bei 41,8 %. Eine Anhebung um 25 Basispunkte (BP) auf 25 bis 50 BP wurde mit 39,8 % eingepreist und eine weitere auf 50 bis 75 BP mit 15,1 %, darüber nur mit 3,2 %. Bis 25. Juni hat sich einiges verändert: Während die Erwartung einer einzigen Leitzinserhöhung noch konstant mit 39,9 % eingepreist war, betrug die Wahrscheinlichkeit gleichbleibender Leitzinsen nur noch 26 %. Die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Leitzinserhöhung auf 50 bis 75 BP preisen die Märkte bereits mit 24,6 % ein und auf 75 bis 100 BP mit 7,9 %, darüber mit 1,5 %.

Abweichungen von den „Fed-Zinssignalen“
Eher verhalten reagieren in diesem Umfeld die Kurse der 10jährigen US-Treasuries, die lediglich auf 1,5360 % anstiegen (verglichen mit 52-Wochen-Hoch von 1,7650 %). Das ist schon eine gewisse Abweichung, die ernst genommen werden sollte.

Auch in Europa gab es moderate Renditeanstiege, zumal die Inflation im Euroraum im Mai mittler-weile 2 % erreicht hat. Trotzdem waren die Renditeschwankungen der Staatsanleihen noch gut überschaubar: Laut der alle sechs Wochen von der EZB vorgenommenen Expertenbefragung wird im Euroraum die erste Leitzinserhöhung ausgehend von aktuell 0 % im Mai 2024 erwartet. Doch dieser Kreditzins spielt derzeit aufgrund der hohen Liquidität der Banken keine besondere Rolle. Bezüglich des Einlagenzinses erwarteten die Umfrageteilnehmer lediglich einen kleinen Schritt in Höhe von 0,1 %-Punkten. Derzeit müssen Banken für das Halten überschüssiger Liquidität bei der EZB einen Strafzins von 0,5 % zahlen. Für den Fall einer erneuten negativen Konjunkturentwicklung und möglicher weiterer Zinssenkungen sehen die befragten Fachleute bei einem Einlagenzins von -0,8 % eine kritische Untergrenze, ab der Negativzinsen die Wirtschaft mehr bremsen als fördern.

Folgende Argumente sprechen sowohl in den USA als auch in Europa gegen eine allzu schnelle Wende in der Geldpolitik: Ist die Inflation nur temporär, dann werden die Basiseffekte ausgehend von einem hohen Preisniveau zu einem späteren Zeitpunkt dämpfend wirken. Es gibt noch eine relativ hohe strukturelle Arbeitslosigkeit sowohl in den USA als auch Europa, die infolge digitalisierungsbedingter Rationalisierungen erhöht bleibt. Hinzukommen noch Risikofaktoren ausgehend von neuen Corona-Mutationen wie beispielsweise der Delta-Variante. Was ist, wenn sich der Lockdown-Zyklus im Herbst dieses Jahres wiedererholt?

Fazit: Eine geldpolitische Wende ist nach wie vor mit einigen Fragezeichen versehen.

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