Wo Experten noch Chancen sehen
Mit Vorsicht und Diversifikation durch die zweite Halbzeit
Raja Korinek. In den vergangenen zwölf Monaten erlebten Anleger eine veritable Achterbahnfahrt. Der Crash vom Mai war heftig, die Erholung ebenso rasch. Noch dauert die Börsenrallye an. Ob dies so bleiben wird? JP Morgan Asset Management führt hierzu jedes Quartal eine Umfrage mit 38 Chefanlagestrategen und Portfoliomanagern weltweit durch. Das jüngste Ergebnis (April 2021) spricht eine klare Sprache. „Mehr als die Hälfte der Befragten rechnet nur noch mit durchschnittlichen Erträgen an den Aktienmärkten. Bloß 13 % glauben an überdurchschnittliche Zuwächse“, kommentiert Paul Quinsee, Global Head of Equities, die Auswertung im Gespräch mit dem Börsen-Kurier.
Angesichts der harten Fakten ist die Zurückhaltung vieler Anleger nachvollziehbar: Quinsee meint, die Gewinnerwartungen seien angesichts der allgemeinen Konjunkturerholung hoch, die Bewertungen an den Aktienmärkten ebenso. In den Schwellenländern dürften heuer die Unternehmensgewinne um durchschnittlich 40 % zulegen. In Europa sollte der Zuwachs bei rund 35 % liegen, in den USA bei 29 %.
US-Markt am teuersten bewertet
Im Vergleich dazu liegt das geschätzte Kurs-Gewinn-Verhältnis auf die kommenden zwölf Monate für den MSCI Emerging Markets bei 14,9, für Europa bei 17,8 und für die USA bei 22,7. Letzterer Markt ist damit nicht nur am teuersten bewertet. Auch der Abstand zum 25-jährigen Durchschnitt, der bei 16,6 liegt, ist jenseits des Atlantiks am höchsten. Dass US-Aktien derzeit am teuersten sind, begründet Quinsee mit der hohen Anzahl an Technologietiteln, die in der jüngsten Vergangenheit teils enorme Kurszuwächse verzeichnet haben.
Der Marktexperte rät Anlegern deshalb zu Vorsicht bei Neuinvestments gerade in diesem Bereich, wenn es auch immer noch Chancen gebe. Unternehmen wie Microsoft (ISIN: US5949181045) oder Amazon (US0231351067) „profitieren vom wachsenden Geschäft mit der Cloud, dass erst noch am Beginn steht“. Derzeit würden erst rund
20 % der globalen IT-Budgets in das Geschäft mit der virtuellen Datenspeicherung investiert. Das könne auf 50 % wachsen.
Breite Streuung wird wichtiger
Vorsichtig stimmen Quinsee allerdings nicht nur die hohen Bewertungen vor allem bei Technologieaktien. Ihm gefällt ebenso wenig die wachsende Börseneuphorie bei Privatanlegern. Er meint, deren Begeisterung für Aktieninvestments könne zu turbulenten Übertreibungen führen.
Quinsee würde ein Aktienportfolio deshalb breit aufstellen. Schließlich gebe es Bereiche, die sich nicht derart verteuert hätten. Doch wo sieht der Profi die interessantesten Chancen? Er verweist auf Substanztitel – sogenannte „Value-Aktien“. Sie erzielen meist solide Gewinne, sind an der Börse aber oftmals unterbewertet. Das aktuelle KGV liegt weltweit bei rund 11 für Value-Aktien, „und damit im langfristigen historischen Durchschnitt“, sagt Quinsee.
Viele solcher Titel kommen dabei aus dem Industrie-, dem Finanz-, aber auch dem Energiesektor. Ihnen kommen einige Faktoren zugute, wie etwa der steigende Ölpreis oder die Bondrenditen bei längeren Laufzeiten. Letzterer Umstand kommt den Banken zugute, da sie dann eine höhere Zinsspanne lukrieren.
Elektromobilität als Chance
Quinsee verweist auch auf Chancen im Industriesektor, insbesondere in der Automobilbranche. Schließlich würden große Hoffnungen in die Elektromobilität gelegt. Von solchen Zukunftsvisionen habe bislang vor allem Tesla (US88160R1014) profitiert. „Die Bewertungen dieser Aktie sind deshalb enorm hoch.“ Doch herkömmliche Autobauer wie General Motors (US37045V1008), Volkswagen (DE0007664039) oder BMW (DE0005190003) holten inzwischen auf: „Anleger sollen die Entwicklungen gut abwiegeln, zumal traditionelle Autokonzerne weitaus günstiger bewertet sind“, so Quinsee.
General Motors plant, bis 2035 die Produktion von Verbrennungsmotoren einzustellen und nur noch Elektroautos zu produzieren. Bis 2030 will Volkswagen den Anteil an E-Autos in Europa auf 70 % erhöhen. Und bei BMW? Da möchte man bis dahin die 50-%-Marke erreichen.
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