Hemmschuhe und Motoren für die Altersvorsorge

Eine Expertenrunde diskutierte auf Einladung des Börsen-Kurier über die Zukunft der Lebensversicherung.

Emanuel Lampert. 100 Euro des Jahres 2002 sind aktuell 141 Euro – „eine ganz schöne Geldentwertung“, leitete Moderator und Börsen-Kurier-Herausgeber Marius Perger die Diskussion mit fünf Experten aus der Versicherungsbranche ein. Wie kann die Altersvorsorge auf eine künftig womöglich höhere Inflation reagieren?

Für Erwin Mollnhuber, Vorstandsmitglied der Nürnberger Versicherung, ist die aktuelle Inflationsentwicklung ein vorübergehender Effekt. Er erwartet, dass das Wirtschaftswachstum 2022 stärker greifen und die Inflation nicht allzu hoch werden wird. Dennoch: Mit Blick aufs Anlegen sei heute nicht mehr die Volatilität das Risiko, sondern die Geldentwertung. Auf Sparbüchern und Girokonten ruhe einiges an Kapital, „das man gewinnbringender anlegen kann“. Für die Altersvorsorge gebe es „keine Alternative zur fondsgebundenen Lebensversicherung“.

Michael Miskarik, Chef der HDI Lebensversicherung in Österreich, meint: Die Produktgestaltung hat „ein Umdenken“ nötig. Er plädiert dafür, aus Kostengründen möglichst keine „laufenden, wachsenden“ Garantien einzusetzen. Gerade bei steigender Inflation – Miskarik rechnet die nächsten Jahre mit 2,3 bis 2,6 % – „muss man schauen, dass man alle Showstopper aus den Produkten rausbringt“. Da Altersvorsorge auf langfristiges Ansparen angelegt sei – wobei er kritisierte, dass die durchschnittliche Vertragslaufzeit derzeit nur bei rund acht Jahren liege -, seien Garantien während der Laufzeit verzichtbar; „vernünftig“ wäre etwa eine endfällige Garantie.

Gerfried Karner, der Geschäftsführer der Continentale, erwartet keinen massiven, wohl aber einen konstanten Inflationsanstieg. Auch er ist kein Freund von Garantien. Die Versicherer seien gefordert, „den Kunden die Angst vor dem Kapitalmarkt zu nehmen“. Fonds und Aktien seien langfristig „eigentlich der Sachwertschutz schlechthin“. Inflationsschutz sei nicht nur ein Thema der Ansparphase, sondern gehöre auch in Bezug auf den Auszahlungszeitpunkt stärker in den Fokus gerückt. Zudem werde der Lebensstandard mit fortschreitendem Alter eher steigen als sinken. Man müsse in der Ansparphase mit Dynamisierungen, Indexanpassungen arbeiten und in der Pensionsauszahlungsphase „sehr flexibel und auch inflationsschutzorientiert“ agieren.

Indexierung ist auch für OVB-Geschäftsführer Markus Spellmeyer ein Gegenmittel zur Inflation, und das werde auch genutzt: „Die Verträge, die wir in der fondsgebundenen Lebensversicherung abschließen, haben eine Einschlussquote von 90 %.“

Standard Life hat 2015 aufgehört, Produkte mit Garantien zu verkaufen, stellte Christian Nuschele, Head of Sales & Marketing für Deutschland und Österreich, fest. „Das war in den ersten Jahren ein hartes Brot, mittlerweile funktioniert es ganz ausgezeichnet. Das Bewusstsein speziell beim Berater, beim Finanzdienstleister, dass die Garantien tatsächlich ein Hemmschuh für den Motor der Altersvorsorge sind, wächst.“

Ungezillmerte Verträge: ein Inflationsschutz?

Bieten ungezillmerte Verträge die Chance auf ein besseres Ergebnis und damit auf Inflationsschutz? „Sie sind auf jeden Fall ein gutes Instrument auf dem Weg dahin“, sagt Nuschele. Für die Geldanlage seien sie eine „sehr gute Alternative“, weil sie sowohl „steuerlich Sinn machen“ als auch große Flexibilität böten, die Rückkaufswerte seien schon sehr früh hoch. Für den reinen Altersvorsorgeaufbau mit dem Ziel, zum Pensionsantritt eine Zusatzrente, ein Zusatzkapital zu haben, „sind aber häufig die gezillmerten Varianten sogar günstiger, denn alles, was ich vorher an Kosten wegnehme, muss ich nicht über die komplette Vertragslaufzeit abzinsen“.

Welche Produkte eignen sich am besten für die Altersvorsorge in der dritten Säule? Welche Wünsche hat der Vertrieb an die Produktgeber? Spellmeyer stuft die klassische Kapitallebensversicherung aufgrund der derzeitigen Entwicklungen als „Auslaufmodell“ ein. Die OVB offeriere als Lösung die fondsgebundene Lebensversicherung und Sparpläne, wo in Aktien und Fonds investiert werden kann.

Der Trend in Europa sei, „dass die Leute mehr in Sachwerte gehen wollen“ und sich „ein bisschen gegenüber Aktien öffnen“.

Lebensstandardsicherung: möglich oder illusorisch?
Kann private Altersvorsorge den Lebensstandard sichern? „Selbstverständlich“, sagt Nuschele. „Wir sehen in unseren Beständen, dass unsere Verträge im Moment bei durchschnittlich 5,22 % ablaufen“, wobei die durchschnittliche Vertragslaufzeit deutlich über acht Jahre liege.

Karner meint, dass die Lebensstandardsicherung überhaupt nur mit einer Fondsgebundenen oder ähnlichen Produkten möglich ist. Er unterstrich: Für die Rentenphase könne man dynamische Renten vereinbaren, das müsse ins Bewusstsein gerückt werden.

Mollnhuber ist der Ansicht, dass die öffentliche Meinung über die Fondsgebundene „noch verbesserungswürdig ist“. Die von Nuschele genannten Werte beim Ablauf seien ein hilfreiches Argument gegen eine „Geldvernichtung“ in schlecht verzinsten Sparformen.

Spellmeyer zeigte sich überzeugt, dass private Vorsorge den Lebensstandard sichern kann. „Wir haben genügend Werkzeuge dafür.“ Er erwartet, dass mittel- und kurzfristig der Gedanke Fuß fassen wird, dass sie unterstützt werden muss. In Deutschland stehe auf den Pensionsauszügen der Hinweis, dass die gesetzliche Rentenversicherung nicht ausreiche und privat vorgesorgt werden müsse.

Ist Altersvorsorge schon nachhaltig genug?
Themenwechsel: 2020 seien laut „Forum Nachhaltige Geldanlage“ 38,9 Mrd Euro nachhaltig investiert worden, 30 % mehr als 2019, berichtete Perger. Nuschele betrachtet das mit Skepsis: Viele bereits bestehende Fonds seien per Jahreswechsel als nachhaltig gemäß den neuen rechtlichen Vorgaben klassifiziert worden. Dort gehe es also nicht um neue Zahlungsströme in nachhaltige Anlagen, sondern ums Etikett.

Sind Nachhaltigkeitsaspekte bereits ausreichend in Altersvorsorgeprodukten implementiert? Mollnhuber sieht den Ball nicht zuletzt bei den Fondsanbietern. Er attestiert ihnen, in letzter Zeit – Stichwort EU-Nachhaltigkeitsinitiativen – „durchaus kreativer geworden“ zu sein. Die Nürnberger selbst führe, schon seit mehreren Jahren, Prüfungen an Hand bestimmter Qualitätskriterien durch. Spellmeyer sagte, Nachfrage sei vorhanden, das Angebot aber noch sehr überschaubar. „Da muss deutlich mehr passieren, gerade auch bei den Fondsanbietern.“

Karner meint, dass in puncto Nachhaltigkeit „der erste Schritt getan“ ist. Von „Einzelaktionismus“, von bloßem Marketing mit einem „super Produkt“ hält er wenig. In Zukunft sollte Nachhaltigkeit als Prinzip verstanden werden, angebots- wie nachfrageseitig. Chancen sieht er langfristig dort, wo Nachhaltigkeit zum Qualitätsfaktor wird.

Miskarik sagte, Nachhaltigkeit werde nach und nach gefordert, tendenziell von der jungen Generation, „die offenbar wirklich anders denkt“. Das schlage sich „natürlich in den Underlyings unserer Fondsgebundenen“ nieder. Spellmeyer bestätigte: Schon bevor Nachhaltigkeit medial so präsent war, habe es Kundengruppen gegeben, die beispielsweise nicht in Fonds investieren wollten, die mit Kernkraft zu tun haben; in den Generationen Y und Z habe sich das Wertesystem verschoben.

Standard Life hat zusammen mit den Asset-Managern Franklin Templeton und Aberdeen ein Angebot mit „ESG-Commitment“ kreiert. Beide „unterstützen uns mit ausgewogenen Portfoliolösungen, die Ende des Jahres in unsere Polizzen aufgenommen werden“, so Nuschele. Für den Markt im Allgemeinen hofft Nuschele auf „klarere Kante“, damit nicht Produkte als grün vermarktet werden, die es nicht sind.

Drohen Lebensversicherern Gefahren?
Zu Beginn der dritten Runde zitierte Perger die Finanzmarktaufsicht: Zwei Drittel der österreichischen Versicherer haben einen Solvabilitätsgrad von mehr als 200 %, der Median beträgt 221 %. Anderer-seits warnen europäische Aufseher vor Risiken für den Finanzsektor, wie Staatsverschuldung oder Inflation. Wie kann die Altersvorsorgebrache damit umgehen? Hält sie die Niedrigzinsphase aus?

Miskarik erinnerte daran, dass sich die Lebensversicherungsbranche bereits die letzten zehn Jahre auf die Niedrigzinsphase eingestellt habe – etwa, indem Leistungen wie Überschussbeteiligungen sukzessive an das Zinsumfeld angepasst worden seien. „Das schlägt sich natürlich auch in der Produktkalkulation nieder.“ Wer das nicht getan habe, „würde heute kaum mehr den Markt bewirtschaften können“. HDI Leben habe eine Solvabilitätsquote von 235 % ohne Übergangsmaßnahmen. Ein Lebensversicherer werde „gut beraten“ sein, sich in dieser Größenordnung wiederzufinden.

Ein Szenario mit Inflation und wenig bis null Wirtschaftswachstum – sind die Lebensversicherer auf so etwas vorbereitet? „Wir müssen schon lange darauf vorbereitet sein“, antwortete Karner. Die Continentale habe sich bereits von Produkten mit hohen Zinsrisiken weg- und zu einem Mix aus Fondsgebundener, Biometrie und Sachversicherung hinbewegt. „Aber du musst natürlich weiter die Augen offenhalten.“

Welche Auswirkungen hätte ein Inflationsszenario auf die Ertragssituation der Versicherer? Für die Kapitalanlagen der Standard Life sieht Christian Nuschele aktuell aufgrund der seit 2015 verfolgten Garantiepolitik keine Auswirkungen. Bei With-Profit-Produkten werde bereits mit der ersten Prämie sichergestellt, „dass genügend Deckungsmittel da sind“. Das schaffe finanzielle Stabilität und Manövriermasse fürs Anlagemanagement. Ein Inflationsszenario sieht er ohnehin nicht, vielmehr werde der Niedrigzins noch länger bleiben. Für die Branche bedeute das Kostendruck.

Zuletzt war das chinesische Unternehmen Immobilienunternehmen Evergrande in den Schlagzeilen, in Deutschland wurde eine Debatte über die Verstaatlichung von Wohnungsunternehmen angestoßen – kann sich im Immobilienbereich ein Risiko für Versicherer auftun? „Aus unserer Sicht nicht“, sagt Mollnhuber. „Sachwerte und Immobilien sind und werden eine Ertragsquelle bleiben.“ Die Erträge könnten aufgrund dieser Entwicklungen allenfalls kurzfristig etwas zurückgehen, an einen dauerhaften Effekt glaubt er aber nicht.

Wie gut sind Versicherer für Unerwartetes gewappnet?
Wie gut sind Lebensversicherer auf Ereignisse – wie zuletzt die Corona-Pandemie – vorbereitet, mit denen man eigentlich nicht rechnet? Die Branche sei in den letzten Jahrzehnten wiederholt vor Herausforderungen gestanden, aber immer gut herausgekommen, sagt Spellmeyer. „Das sollte uns stolz machen.“ Die OVB-Gruppe verfolge eine „Premium-Select-Strategie“: ein Auswahlverfahren, in dem man Produktpartner und -angebote sorgfältig prüfe.

Nuschele sieht Unwägbarkeiten speziell in der Regulierung. Es könne sein, dass auf europäischer Ebene Eingriffe im Courtagebereich Gesprächsthema werden, „und das verwirft definitiv den Markt“. Das sei lösbar, aber „eines der Risiken, auf das wir uns einstellen müssen“.

„Das Thema der regulatorischen Rahmenbedingungen ist fast am schwersten einzuschätzen“, sagte Karner. Abseits dessen drohe bei einer anhaltenden Niedrigzinsphase, dass bei so manchem Marktteilnehmer „zu Tode gespart wird“, letztlich auf Kosten der Qualität.

Regulierung und Niedrigzins sind auch für Miskarik wesentliche Aspekte. Problematisch sei auch, dass die Fondsgebundene bei vielen Maklern einen zu geringen Stellenwert habe. Er appelliert an die Berater, das zu ändern; der jungen Generation von heute drohe sonst ein Versorgungsproblem.

Mollnhuber übte Kritik an „Regulierungshunger“ der Aufsicht, der Zeit und Geld koste. Wenig Verständnis bringt er auch dafür auf, wenn Konsumentenschützer wegen Kostenklauseln gerichtlich klagten, die vor 20 Jahren als Verbandsempfehlung in Verträgen gestanden seien. Ein weiteres Thema sei Digitalisierung. Der Onlineabschluss einer, insbesondere fondsgebundenen, Lebensversicherung sei nicht seine Philosophie und aus heutiger Sicht für ihn nicht vorstellbar. Womöglich komme das aber „schneller auf uns zu, als wir glauben“.

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