Wo steht die zweite Säule?
Die betriebliche Altersvorsorge ist „klein“ – ist das ein großes Problem? Und wie wird sie attraktiver?
Emanuel Lampert. Den Löwenanteil der Pensionsversorgung trägt in Österreich die erste Säule, die gesetzliche Pensionsversicherung. Der Anteil der betrieblichen („zweite Säule“) und privaten („dritte Säule“) Vorsorge ist gering. Ist das ein Nachteil? Und ist eine Diversifikation des Pensionssystems schon ein Wert für sich? In einem Expertengespräch unter der Leitung von Börsen-Kurier-Herausgeber Marius Perger wurde diesen Fragen nachgegangen.
„Diversifikation ist immer ein Wert für sich“, damit nicht alles auf eine Karte gesetzt werden muss, meint Tatjana Schrefl, Senior Manager Tax bei KPMG Österreich. So lasse sich auch der Kapitalmarkt für die Pensionsvorsorge nutzen. Das bestehende Pensionssystem könne man freilich nur mit einem langfristigen Ansatz und entsprechendem politischen Willen ändern.
Sind stärker kapitalmarktfinanzierte Systeme wie in Dänemark, den Niederlanden oder der Schweiz „besser“ als unseres? Besser in dem Sinn, dass sie wesentlich diversifizierter sind, sagt Peter Kaltenböck, Senior-Experte Betriebliche Vorsorge bei der Uniqa. Das kapitalgedeckte Verfahren könne eine „gegenläufige positive Wirkung“ entfalten, wenn die Märkte gut laufen, während das Umlageverfahren der ersten Säule „ein sehr gutes Abfederungsinstrument“ in schwierigen wirtschaftlichen Situationen sei.
Die Einführung eines Systems wie in den angeführten Ländern sei eine extreme Herausforderung, ergänzt Christian Schuster, Leiter Betriebliche Altersvorsorge bei der Wiener Städtischen, – wenn nämlich Beitragszahler parallel zum laufenden Umlagesystem auch noch den Aufbau der eigenen Pension im kapitalgedeckten Weg finanzieren müssen. Man könne aber auf eine Verbreiterung hinwirken, indem man auf Folgen bereits erfolgter Pensionsreformen hinweise: künftig sinkende Pensionen.
Moderator Perger zitierte aus einem IHS-Bericht vom Juli 2020, an dem der heutige Arbeitsminister Martin Kocher, damals noch IHS-Direktor, mitgeschrieben hat: „Aus verhaltensökonomischer Sicht sind es wahrscheinlich gerade die Komplexität der Produkte in diesen Säulen und vor allem die Komplexität von steuerlicher Behandlung bzw. Förderung, die sie in Österreich teilweise wenig attraktiv machen.“
Thomas Wondrak, Sachverständiger für betriebliche Vorsorge und Unternehmensberater, entgegnet: Bei einer Wohnungsversicherung habe auch niemand das Gefühl, etwas Komplexes vor sich zu haben, obwohl eigentlich auch diese nicht ganz so einfach sei. Im Grunde sei das Modell in der Vorsorge einfach: „Wir zahlen Geld ein, das Geld wird am Kapitalmarkt veranlagt, und wir zahlen Geld aus.“ Komplex werde die betriebliche Altersvorsorge (BAV) erst, wenn es um steuerliche, arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Fragen geht.
Wie die BAV attraktiver machen?
Schuster hielt fest, aktuell seien nur wenige Beschäftigte in der BAV erfasst. Wenn der Arbeitgeber nicht mitmacht, könne auch der Arbeitnehmer nicht mitmachen. Zuerst müsse man deshalb die Zugangshürden beseitigen.
Was die Eigenfinanzierung der Arbeitnehmer betrifft, wurde Schrefls Meinung nach bisher „viel zu wenig“ für eine Attraktivierung der zweiten Säule versucht. Sie hält eine Grundsatzentscheidung für nötig: Soll die zweite Säule gestärkt, das kapitalgedeckte Verfahren eventuell zum Teil auch in der ersten Säule eingebunden werden? „Dann wird es wahrscheinlich anders als mit einem Obligatorium nicht funktionieren“, zumal in Österreich der Gedanke an die langfristige Pensionsvorsorge weniger präsent sei als jener an ein aktuell möglichst frei verfügbares Vermögen. Ihrer Wahrnehmung nach steigt die Bereitschaft zum Handeln, wenn es steuerliche Vorteile gibt. Sie könnte sich etwa auch einen Beitragszuschuss in der Sozialversicherung vorstellen, wenn in betriebliche Vorsorge investiert wird.
Wondrak formuliert drei BAV-politische Ansatzpunkte: Steigerung der Attraktivität für KMUs und Einzelunternehmen, Förderung für Kleinverdiener und Handeln im Bereich der Frauenversorgung, weil Frauen „am meisten von der Pensionsreform betroffen sein werden“. Kaltenböck sieht die BAV im breiten KMU-Bereich noch nicht angekommen. Er schlägt den Ausbau der „Zukunftssicherung“ mit ihrer Möglichkeit der Gehaltsumwandlung vor; die derzeit geltenden 300 Euro seien bloß „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Am liebsten wäre ihm eine „Gesamtreform“ inklusive erster Säule. Die hält er zwar nicht für in absehbarer Zeit realistisch, auf den Tisch gehörten aber mehrere Themen: Versicherungssteuerfreiheit, Absetzbarkeit von Arbeitnehmerbeiträgen, Stärkung der Entgeltumwandlungssysteme.
Für Versicherer interessant
Meist wird die zweite Säule mit Pensionskassen und „Abfertigung neu“ assoziiert. Wo sind hier die Versicherer zu verorten? Schuster ist von der Rolle der Versicherung in der BAV überzeugt und nennt zwei Argumente: versicherungsmathematisches Know-how und die Möglichkeit, Garantien zu bieten – nicht zwangsläufig etwa eine Mindestverzinsungs-, wohl aber eine Rententafelgarantie.
Die BAV sei mit ihren Durchführungswegen der betrieblichen Kollektivversicherung, der direkten Leistungszusage und der Zukunftssicherung sowie damit zusammenhängenden biometrischen Themen natürlich ein interessantes Feld, stellt Kaltenböck fest. Die Uniqa wickle zirka ein Viertel des gesamten Lebensversicherungsgeschäfts im Rahmen der betrieblichen Vorsorge ab.
Welches Potenzial haben BAV-Versicherungslösungen? Schrefl sieht Versicherungen als alternatives Modell zu Pensionskassen: Versicherungen könnten als Vorteil ausweisen, „Garantien, Stabilität und Planbarkeit“ zu bieten – aber eben um den Preis, potenziell weniger ertragreich zu sein, weil Garantien etwas kosten.
Wondrak sieht ein Problem darin, „dass man sich nicht darüber verständigt, für welche Zielgruppe man welches Produkt braucht“. Er ortet ein Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, dieses müsse man erfüllen. Kaltenböck plädiert für ein wechselseitiges Ergänzen: Nicht nur ein Mix der Säulen, auch ein Mix innerhalb der Säulen sei möglich. So ließen sich Durchführungswege der BAV kombinieren, „dieser Produktmix macht die eingangs angesprochene Diversifikation aus“.
Kein Entweder-oder
Pensionskassen richten an die Politik ein ganzes Bündel an Forderungen, stellte Perger fest: Schaffung von Generalpensionskassenverträgen, Prämienmodelle für kleine Einkommen, steuerliche Änderungen. Würden die Versicherer unter derlei leiden? Oder sollten sie mitziehen?
Ein Generalkollektivvertrag würde de facto für den Großteil der Beschäftigten ein Obligatorium bedeuten, meint Schrefl. Aber den einen Durchführungsweg nehmen zu müssen, das „muss jetzt auch nicht unbedingt sein“, denn die Bedürfnisse seien verschieden. Sie ist gegen ein Entweder-oder: Pensionskassen und Versicherungen seien Alternativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Fähigkeiten. Daraus einander stark ähnelnde „Mischprodukte“ zu formen, hielte sie bloß für doppelten Aufwand. Von zu vielen individuellen Wahlmöglichkeiten in der BAV rät sie aber ab, das würde die Beratung aufwendiger machen und die Betroffenen womöglich überfordern. Individualisierung sei in der dritten Säule besser aufgehoben. Gut fände sie es deshalb, BAV-Durchführungswege zu kombinieren.
Schuster hat mit dem Begriff „Generalpensionskassenvertrag“ keine rechte Freude. Er zöge sozu-sagen einen „General-betriebliche-Vorsorge-Vertrag“ vor – bei dem
die Mitarbeiter auch Eigenbeiträge leisten. Eine Sozialversicherungsbefreiung betrachtet er kritisch, denn letztlich heiße das: „Ich wandle um und kürze meine staatliche Pension.“ Das gehe am Sinn vorbei, hier sei der Gesetzgeber gefordert, die Umwandlung attraktiv zu gestalten.
Wondrak vermisst in Österreich eine ideologiefreie Analyse, wie erste, zweite und dritte Säule im Zusammenspiel funktionieren. Wenn es die gebe, könne man entscheiden, was wie gefördert wird. In anderen Ländern werde diese „große gesellschaftliche Diskussion“ permanent geführt. „Das, glaube ich, ist ein Schritt, den wir schaffen müssen, dass wir überhaupt einmal wissen: Was wollen wir als Gesellschaft in Österreich?“
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