Nachhaltigkeit wird zur Pflicht bei der Geldanlage

Ab 2. August 2022 ändern sich die Spielregeln beim Investieren.

Andreas Dolezal. Mit dem Grünen Deal verfolgt die Europäische Kommission bekanntlich das Ziel, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent der Erde zu machen. Bis zum Jahr 2050 möchte die EU Netto-Treibhausgasemissionen von null erreichen. Dieser epochale Transformationsprozess wird Billionen von Euros kosten, die nicht nur die Politik zur Verfügung stellen soll, sondern auch Privatanleger. Das Ziel eines Europas mit Netto-Nullemissionen „erfordert auch klare Signale an die Anleger in Bezug auf ihre Investitionen, um verlorene Vermögenswerte zu vermeiden und nachhaltige Finanzmittel zu mobilisieren“, formuliert die EU-Kommission.

Die nächste Stufe dieser Mobilisierung zündet am 2. August 2022. Ab diesem Dienstag müssen Finanzberater (von Banken, Versicherungen und Wertpapierunternehmen) ihre Kunden verpflichtend nach deren „Nachhaltigkeitspräferenzen“ bei der Geldanlage befragen. Denn an diesem Tag treten die Änderungen der zugehörigen EU-Verordnungen für Wertpapier- (MiFID II) und Versicherungsberatung (IDD) in Kraft.

Eignungsbeurteilung
Schon heute müssen Sie als Anleger zahlreiche Fragen zu Ihren Anlagepräferenzen beantworten, bevor ein Finanzberater für Sie geeignete Anlageprodukte wie Investmentfonds oder Lebensversicherungen empfehlen darf. Erfahrungen und Kenntnisse im Anlagebereich, regelmäßiges Einkommen und Vermögensverhältnisse, Risikotoleranz, Anlagehorizont usw. sind nur ein paar Beispiele von Anlagepräferenzen, nach denen Sie bereits gefragt werden (müssen). Zu diesen Fragen kommen ab 2. August 2022 noch ein paar weitere hinzu. Der Fachbegriff für diese Abfrage und die daraus resultierenden Anlageempfehlungen lautet „Eignungsbeurteilung“.

Bevor Sie jetzt zu Grübeln beginnen, weil Sie sich mit Ihren persönlichen Nachhaltigkeitspräferenzen bis dato noch gar nicht beschäftigt haben: Die EU legt in den neuen Bestimmungen nicht nur fest, dass Sie als Anleger nach Ihren Nachhaltigkeitspräferenzen gefragt werden müssen, sondern auch wie, wonach und in welcher Reihenfolge. Sie brauchen sich also keine Gedanken darüber zu machen, welche Kriterien für Sie persönlich nachhaltiges Investment auszeichnen. Das macht vorsorglich die EU für Sie.

Nachhaltigkeitspräferenzen
Die EU definiert als „Nachhaltigkeitspräferenz“ die Entscheidung eines (potenziellen) Kunden da-rüber, ob und – wenn ja – mit welchem Mindestanteil in ein Finanzprodukt investiert werden soll, das im Sinne der Taxonomie oder der Offenlegungsverordnung anlegt. Ebenso müssen Sie gefragt werden, ob in ein Produkt investiert werden soll, „bei dem die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigt werden“. Dabei bestimmen Sie die „qualitativen oder quantitativen Elemente“.

Sie wissen nicht, was ein Finanzprodukt im Sinne der Taxonomie oder der Offenlegungsverordnung ist? Sie haben noch nie von nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren gehört? Und Sie wissen nicht, was mit qualitativen und quantitativen Elementen gemeint ist? Keine Sorge, Ihnen wird geholfen werden.

Der europäische Gesetzgeber weiß augenscheinlich, dass Anleger mit Fragestellungen im Wortlaut spröder Gesetzestexte wenig anfangen können. Daher verlangen die Bestimmungen auch, dass Finanzberater erklären können, was nachhaltige Finanzprodukte gemäß Taxonomie und Offenlegungsverordnung sind, und wie sich solche Finanzprodukte von anderen Finanzprodukten unterscheiden, die diese Merkmale nicht aufweisen. „Damit die Kunden oder potenziellen Kunden diese verschiedenen Nachhaltigkeitsgrade verstehen und mit Blick auf die Nachhaltigkeit fundierte Anlageentscheidungen treffen können“, schreibt die EU-Kommission. Finanzberater werden also entsprechend geschult sein, um ihre Kunden aufklären zu können.

Compliance- und Rechtsabteilungen von Banken, Versicherungen und Wertpapierunternehmen zerbrechen sich seit Monaten die Köpfe darüber, wie die Erklärung der verschiedenen Finanzprodukte aussehen könnte bzw. der sperrige Gesetzeswortlaut in verständliche Fragen übersetzt werden kann. Das klingt viel einfacher als es tatsächlich ist. Der Teufel steckt im Detail. Als Leiter einer diesbezüglichen Arbeitsgruppe des Fachverbandes Finanzdienstleister in der Wirtschaftskammer kann ich ein Lied davon singen.

Sie können, aber Sie müssen nicht
Zur Klarstellung: Banken, Versicherungen und Wertpapierdienstleister müssen neue (potenzielle) und bestehende Kunden spätestens ab 2. August nach den Nachhaltigkeitspräferenzen fragen. Sie dürfen Ihre nachhaltigen Anlagewünsche äußern, oder antworten, dass Ihnen die EU-Kriterien für nachhaltige Investitionen bei der Geldanlage nicht wichtig sind. Die Bestimmungen erlauben es Ihnen weiterhin, in Finanzprodukte zu investieren, die keine nachhaltigen Merkmale aufweisen bzw. keine nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigen.

Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA schreibt dazu in ihrem Leitlinienentwurf zur Eignungsbeurteilung: „Wenn ein Kunde die Frage, ob er Nachhaltigkeitspräferenzen hat, nicht beantwortet oder mit ‚nein‘ antwortet, kann die Firma diesen Kunden als ‚nachhaltigkeitsneutral‘ betrachten und Produkte sowohl mit als auch ohne nachhaltigkeitsbezogene Merkmale empfehlen.“ Ganz entmündigt werden wir Anleger also doch (noch) nicht.

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