100 und mehr Chancen für Wien

Wichtige Player optimistisch gestimmt, Selbstzufriedenheit wird aber vermieden.

Rudolf Preyer. Die Güte des Börsenplatzes beweise sich untern anderem auch aufgrund seiner Diskretion, sagte Christoph Boschan, CEO der Wiener Börse, auf die Frage nach der Attraktivität. Immerhin datieren die letzten IPOs (mit Addiko, Frequentis und Marinomed) aufs Jahr 2019 zurück. Im Rahmen der Jubiläums-Podiumsdiskussion „100 Jahre Börsen-Kurier“ wurde Boschan von Herausgeber Marius Perger auf mögliche Börsengänge in näherer Zukunft angesprochen. Hausherr Boschan orakelte, dass sich diese Frage „in einem halben Jahr wohl so nicht mehr stellen“ werde.

In Präsenz oder lieber virtuell?
Florian Beckermann
, Geschäftsführender Vorstand des IVA (Interessenverband für Anleger), lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums auf die wohl drängendste aktuelle Frage: „Wir würden gerne zur Präsenz-Hauptversammlung zurückkehren, wie viele normale Kleinaktionäre auch.“ Der Streubesitzer sei schließlich „der beste Aktionär, den jedes Unternehmen haben kann“. Dies aufgrund oft jahrelanger Verbundenheit mit der AG. Leider sei der Kleinaktionär in den vergangenen Jahren in Österreich politisch nicht gefördert worden, so Beckermann, der jedoch einem Richtungswechsel optimistisch entgegensieht.

Thomas Arnoldner, CEO der A1 Telekom Austria Group, wiederum sprach sich für „Wahlfreiheit“ aus – „dass man also digital auch Aktionäre erreichen kann, für die eine Präsenzteilnahme schwieriger ist“. Der Vollständigkeit halber: Die HV der A1 Telekom fand heuer wieder physisch, also mit Anwesenheit der Aktionäre statt.

Bunter Themenstrauß
Aber auch Financial Literacy war ein Thema. „Wegen meiner Kinder kenne ich die Lehrpläne gut, da ist Finanzbildung quasi inexistent“, erklärte Michael Oplustil, der für die Interessensgemeinschaft CIRA – Cercle Investor Relations Austria sprach. Arnoldner ergänzte, dass das Unterstufenfach „Geografie“ nun um den Zusatz „und wirtschaftliche Bildung“ ergänzt werden soll. Leider werden darin aber die Aspekte Marktfunktionen sowie Preis- und Ressourcenbildung sträflich vernachlässigt.

Punkto Steuererleichterungen meinte Beckermann, dass dazu erst eine umfängliche Rechtssicherheit hergestellt werden müsste – und erinnerte in diesem Zusammenhang an den Bank-Austria-Squeeze-Out, der das Rechtssystem seit 14 Jahren beschäftigt. Ein Wort in Richtung Regierung: Die KESt-Befreiung und die Behaltefrist sind im Programm – „dann hätten wir sie auch mal gerne umgesetzt“.

Die Zukunft des Kapitalmarktes
Arnoldner sieht den Tech-Sektor am heimischen Börsenparkett in zehn Jahren „wachgeküsst“ und Oplustil vermutet einen deutlich längeren Kurszettel. Beckermann wiederum ortet künftig eine breite Range an Marktteilnehmern – vom Sparbuchanleger bis hin zum Zocker à la „Gamestop“. Der heimische Marktplatz habe in Europa gute Chancen auf Spitzenrankings – gerade auch, was die ESG-Thematik betrifft.

Boschans Resümee lautet: „Ein mittelgroßer Börsenplatz wie Wien hat seine Daseinsberechtigung dann, wenn er seine USPs kennt und weiterentwickelt.“ Die Börsen von Frankfurt, Dublin und Luxembourg habe man zum Beispiel bei der Anzahl von Anleihenlistings bereits „überholt“. Wenn es anderswo Rückgänge gebe, sei es umso erstaunlicher, dass die Wiener Börse heuer wieder nahezu ein Rekordergebnis anvisiere.

Diskutierten in der Wiener Börse über den heimischen Kapitalmarkt (v.l.): Florian Beckermann vom IVA, CEO Thomas Arnolder von der A1 Telekom Austria Group, Börsen-Kurier-Herausgeber Marius Perger, Börse-Chef Christoph Boschan und CIRA-Vorstand Michael Oplustil

Die Langversion lesen Sie im Jubiläumsmagazin zu 100 Jahre Börsen-Kurier am 3. November.

Foto: Börsen-Kurier/Richard Tanzer