„Kontrollierte Offensive bei Aktien“
Warum er Vorsicht walten lässt, erklärt Tilmann Galler im Interview.
Harald Kolerus. Es ist kein allzu pessimistisches Bild, das der globale Marktstratege in seinem Ausblick zeichnet – aber auch keines, dass zu Freudensprüngen animiert: Denn im Weltgeschehen bleiben viele „Wenns“ und „Abers“, weshalb J.P. Morgan Asset Management auf eine neutrale Gewichtung von Aktien und Anleihen setzt. Die letztgenannte Asset-Klasse habe dabei zuletzt an Attraktivität gewonnen.
Was Aktien betrifft, erklärt Tilman Galler (Foto rechts) im Gespräch mit dem Börsen-Kurier: „Im aktuellen Umfeld mögen wir weiterhin US-Titel, auch wenn sie im Vergleich zum Rest der Welt etwas teurer bewertet sind. Ein großes Plus für die USA ist, dass sie energie-autark sind, die Risikoprämien der AGs fallen dadurch geringer aus als in Asien oder Europa.“
Fokus auf Qualität
Was die Stil-Frage betrifft, bevorzugt der Experte den Bereich Quality/Value gegenüber Growth: „In diesen unsicheren Zeiten stellt sich die Frage nach der Entwicklung der Margen und des Finanzierungsbedarfs. Für Quality/Value-Unternehmen spricht, dass sie in der Regel eine hohe Rentabilität haben, stabile Cashflows aufweisen und günstiger bewertet sind als Growth-Titel.“
Wobei der Experte nicht gänzlich auf die zyklische Komponente verzichten will: „Momentan geht die Angst vor einer Rezession um, was aber teilweise von den Märkten bereits eingepreist worden ist. Wenn absehbar wird, dass sich die Wirtschaft wieder erholen könnte, empfiehlt sich natürlich eine zyklische Positionierung. Diese finden wir geografisch gesehen im Raum Asien/Pazifik, wo Taiwan und Korea unter die Räder gekommen sind. China ist weniger zyklisch, wobei einige Branchen interessant sind, die gezielt von Peking unterstützt werden. Etwa der Transport- und Verkehrssektor bzw. die Elektrifizierung des Verkehrs.“
Zeit der Falken
Was die gesamtwirtschaftliche Entwicklung betrifft, würde vieles vom Agieren der Notenbanken abhängen, die jetzt Getriebene der Inflation sind. Es könnte sich laut Galler aber herausstellen, dass die Zentralbanken momentan zu ,hawkish´ sind und sie im kommenden Jahr weniger restriktiv handeln werden als heuer: „Eine geldpolitische Wende ist möglich, es gibt aber einige Unsicherheiten.“
Klar ist jedenfalls, dass die Fed die Zinsen im schnellsten Tempo seit einer Generation erhöht hat. Das wirbelt die Märkte gehörig durcheinander, weitere Schritte nach oben werden erwartet. Galler sieht aber drei Argumente für eine gedämpfte Notenbankpolitik im Jahr 2023: „Erstens hat sich das Wachstum bereits abgeschwächt, und die Einkaufsmanager-Indizes in den USA, der Eurozone und Großbritannien sprechen für eine weitere Verlangsamung im kommenden Jahr, inklusive dem Risiko einer Rezession.“ Für die USA wird aktuell eine BIP-Steigerung von 0,5 % in 2023 prognostiziert, für die Eurozone Null-Wachstum.
Moderaterer Weg
„Zweitens wird die Inflation voraussichtlich zurückgehen, die Frage ist nur, wie schnell das passieren kann. Immerhin sind die Containerpreise um 60 % von ihrem Höchststand zurückgekommen, auch bei Halbleitern sieht man in manchen Bereichen eine Entspannung. Bei Lebensmitteln wird die Inflation hingegen noch hoch bleiben. Im Bereich Gas hat die EU gut vorgesorgt, wir sollten sicher über den Winter kommen, wenn dieser nicht zu hart ausfällt. Der Ölpreis könnte hingegen nach der Kürzung durch die Opec+ wieder ansteigen.“
Drittens ist der von der EZB gemessene Stress-Indikator der Finanzmärkte jetzt höher als in Pandemie-Zeiten: Dieses Stress-Szenario plus geringes Wachstum (oder sogar Rezession) plus nachlassende Inflation könnten die Notenbanken dazu veranlassen, vom „Falken-Kurs“ abzulassen und wieder mehr unterstützend zu wirken. Das klingt dann doch optimistisch, ebenso wie das Schlusswort des Experten: „In unserem Basisszenario gehen wir davon aus, dass Europa in keine tiefe Rezession abgleiten wird.“
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