Verschnaufpause für den Wachstumschampion?

Indien hat 2022 mit einer starken Börsenperformance weltweit für Aufsehen gesorgt.

Patrick Baldia. Während die großen Weltbörsen im Vorjahr angesichts zahlreicher Gegenwinde strauchelten, zeigte sich in Indien ein völlig anderes Bild: Die beiden größten und wichtigsten Indizes, BSE Sensex und NIFTY 50, legten um rund 4 % zu und erreichten sogar neue Allzeithochs. Dabei gingen Experten davon aus, dass die Mischung aus Ukraine-Krieg-bedingten volatilen Rohölpreisen, schwacher indischer Rupie, Lieferkettenschwierigkeiten und hoher Inflation nichts Gutes verheißen würde. Die große Frage ist jetzt: Kann der indische Aktienmarkt dem schwierigen Umfeld auch 2023 trotzen?

Nicht wenige Beobachter erwarten, dass es heuer ruhiger zur Sache gehen wird. Darauf deutet auch das zarte Kursplus des BSE Sensex, der die 30 größten an der Bombay Stock Exchange gehandelten Unternehmen zusammenfasst, von rund 0,80 %. Ebenso wie die hohen Bewertungsniveaus (KGVe 2023: 22x). Allerdings sind die Bewertungen in Indien, einem Land mit starkem Wirtschaftswachstum und Transformationsprozessen (das BIP-Wachstum der vergangenen fünf Jahre lag im Schnitt bei 5 %; Prognose für die nächsten 5 Jahre: 6 %, Anm.) traditionell höher. Das durchschnittliche KGV der letzten 25 Jahre liegt bei 20x.

Es gibt aber auch optimistischere Prognosen. Die Experten von Goldman Sachs glauben, dass der BSE Sensex bis Ende Dezember 2023 die 80.000-Punkte-Grenze berühren könnte. Derzeit notiert der Index bei rund 61.000 Punkten. Bei Morgan Stanley wird wiederum bis Ende 2023 von einem Niveau von rund 68.500 Punkten ausgegangen. Optimistisch stimmen die Analysten weniger volatile Rohstoffpreise, ein stabiler Inlandskonsum sowie hohe Infrastrukturausgaben der Regierung. Nicht von der Hand zu weisen sind aller-dings auch Risiken, wie die sich ausweitende Handelsbilanz Indiens, die volatile Währungsentwicklung sowie eingeschränkte Liquidität. Ganz zu schweigen vom schwierigen globalen Umfeld.

BSE Sensex: +81 % in 5 Jahren
Auf Sicht der letzten drei bzw. fünf Jahre steht beim BSE Sensex jedenfalls ein Plus von knapp 50 bzw. 81 % zu Buche. Zum Vergleich: Der Dax hat auf Ein-Jahres-Sicht eine Performance von +1,4 % vorzuweisen. In den vergangenen drei bzw. fünf Jahren stieg der deutsche Leitindex um +12,3 bzw. +25 %. Auch der ATX schaut im direkten Vergleich reichlich blass aus: In den letzten zwölf Monaten hat er um 10 % verloren. Auf Drei- bzw. Fünf-Jahres-Sicht hat der heimische Leitindex ein Plus von rund 9 bzw. 2,5 % vorzuweisen.

Zu den interessanten Anlagethemen in Indien für 2023 zählen Analysten Kapitalgüter, Infrastruktur, Chemie und Pharma sowie Wohnen und Banken. Für Erik Lueth, Global Emerging Market Economist beim Assetmanager LGIM, gehört zur „Indien-Story“ der starke Inlandskonsum, die junge und zahlenstarke Erwerbsbevölkerung sowie starker Konjunkturoptimismus. Dazu kommen ein dynamischer IT- und Dienstleistungssektor sowie ein politisches System, das dem Westen um einiges ähnlicher ist als etwa das chinesische.

Lueth glaubt allerdings nicht, dass der Dienstleistungssektor Indien einen ähnlichen Schub geben kann, wie es die Produktion in China getan hat.

Er verweist darauf, dass das verarbeitende Gewerbe, das immanent für die langfristigen Wachstumsaussichten eines Landes sei, es in Indien schwer habe. „Sein Anteil am BIP ist nicht nur niedriger als in anderen Ländern mit vergleichbarem Entwicklungsstand, sondern er schrumpft sogar“ hält Lueth fest.

Laut dem Experten ist sich die indische Regierung dessen bewusst. Schließlich habe sie 2014 die „Make in India“-Kampagne gestartet mit dem Ziel, den Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP bis 2025 auf 25 % zu erhöhen. Im April 2020 habe die Regierung von Premier Narendra Modi nachgelegt und mit dem „Production Linked Incentive (PLI)“-Programm begonnen. Dieses wirbt um ausländische Unternehmen und soll die Produktion in Indien in 14 Schlüsseltechnologien fördern.

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