Zinsperspektiven bis zum Jahresende
Welchen Leitzins preisen die Märkte ein? Was erscheint plausibel?
Michael Kordovsky. Die Mainstream-Prognosen gehen davon aus, dass eine Entspannung an der Inflationsfront zu einem baldigen Ende der Anhebungen in den USA und auch Europa führen sollte und ab 2024 winken dann Leitzinssenkungen. Das klingt zu schön, um wahr zu sein und steht auch in einem strikten Gegensatz zu historischen Erfahrungswerten, die in der heutigen oberflächlichen „Schönwetter-Berichterstattung“ gerne übersehen werden.
Historie spricht für weit höhere Leitzinsen
Definiert man nachhaltige Hochinflationsphasen als Phasen, in denen die Inflationsrate mindestens zwölf Monate in Folge um mindestens 5 % anstieg, so gab es seit 1916 in den USA sieben derartige Phasen, die zwischen 13 Monate (Dezember 1950 bis Dezember 1951) und 70 Monate (Jänner 1977 bis Oktober 1982; zweiter Ölpreisschock) anhielten. Im Schnitt dauerte so eine Phase 37 Monate.
Daran müssen also die Notenbanken länger gearbeitet haben, was auch zutrifft. So haben die Analysten von HedgeGo in der Publikation „Treasury Scout“ vom 10. November 2022 unter Leitung des Analysten Gerhard Massenbauer die letzten acht Zinserhöhungszyklen in den USA (seit 1971) untersucht. Sie kamen zu folgender Erkenntnis: Die durchschnittliche Anzahl an Zinserhöhungen lag bei 15 (per 17. Feber 2023 waren es erst acht) und die durchschnittliche Gesamt-Leitzinserhöhung über den Zyklus hindurchgehend lag bei 5,64 %-Punkten (aktuell: 4,50 %-Punkte). Der Zinserhöhungszyklus in den USA ist dabei erst elf Monate alt. Allerdings dauerte ein Zinserhöhungszyklus im Schnitt 32 Monate. Allerdings schreiben die Analysten in diesem Zusammenhang von durchschnittlichen Szenarien.
In den hochinflationären 1970er Jahren benötigte die Fed 20 bzw. 34 Zinsschritte zur Erreichung ihres Zieles. Selbst unter durchschnittlichen Rahmenbedingungen müssten die US-Leitzinsen noch auf 5,50 bis 5,75 % (aktuell: 4,50 bis 4,75 %) klettern, was entweder vier Zinsschritte zu 0,25 %-Punkten oder einen um 0,50 und zwei um 0,25 %-Punkte bedeuten könnte. Im Falle eines erneuten Inflationsschubs wären dann sogar 6 bis 6,25 % in den USA und 4,25 bis 4,50 % im Euroraum denkbar, während die Bank of England ihre Bankrate bereits in zehn Schritten auf 4 % anhob.
Noch moderate Lohnsteigerungen
Wir befinden uns in einer Zwischenphase, in der drei Faktoren kurzfristig rückläufige (Headline-)Inflationsraten bewirken: Einer der wärmsten Jänner seit 1881 in Deutschland und quer durch Europa durchaus milde Temperaturen seit Beginn der Heizperiode führten zu einer Schonung der Erdöl- und Erdgasvorräte und im Einklang mit der Erwartung eines schwachen Konjunkturverlaufs weltweit zu einem Rückgang der Erdöl- und Erdgaspreise – zumal russisches Erdgas wieder verstärkt unsere Breiten erreicht. Gleichzeitig führte die durch Corona-Maßnahmen bedingte Konjunkturdelle in China zu einer schwächeren Industriemetallnachfrage mit entsprechenden Preisrückgängen. Aufgrund der konjunkturellen Schwäche hielten sich vor allem in den USA die Lohnsteigerungen (Stundenlöhne Privatwirtschaft ex Agrar) noch in engen Grenzen (Jänner: +4,4 %).
Von Juni bis Dezember 2022 war in den USA die Inflationsrate von 9,1 auf 6,5 % (November: 7,1 %) rückläufig. Der Anstieg des Index persönlicher Konsumausgaben ex Nahrungsmittel und Energie verlangsamte sich von November auf Dezember von 4,7 auf 4,4 % – das war die niedrigste Steigerung seit Oktober 2021. Im Euroraum ging die Inflationsrate von 10,6 % im Oktober 2022 auf 8,5 % im Jänner 2023 zurück. Allerdings verharrte die Kerninflation (HVPI ex Energie, Nahrungsmittel, Alkohol und Tabak) auf einem Hoch von 5,2 %.
Für erste Irritationen sorgte die US-Inflation für Jänner 2023, die mit 6,4 % über den Erwartungen von 6,2 % lag. Auch die Kerninflation ist nur noch von 5,7 auf 5,6 % enttäuschend schwach zurückgegangen und es gibt Gründe, die für eine zweite Teuerungswelle sprechen.
Das spricht für stärkere Leitzinsanhebungen
In den USA liegt im Jänner die Arbeitslosenquote mit 3,4 % auf einem 53-Jahres-Tief. Im Kampf um Mitarbeiter steigt die Lohnzahlungsbereitschaft der Unternehmen und je hartnäckiger die Inflation auf erhöhtem Niveau bleibt, desto höher werden in den USA die Lohnforderungen der Arbeitnehmer.
Auch führt die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft dazu, dass die Erdöl-/Erdgas- und Rohstoffnachfrage steigt und somit entsprechend die Preise nach oben treibt. Dem steht zwar durch Wiederherstellung von Lieferketten eine disinflationäre Wirkung entgegen, doch per Saldo sollte der Rohstoffpreisschub überwiegen und in der Lage sein, dass zumindest im Euroraum die Inflationsrate wieder knapp zweistellige Größenordnungen erreichen kann.
Bereits am 2. Feber 2023 kündigte die EZB für März eine weitere Leitzinsanhebung im Ausmaß von 0,5 %-Punkten an und auch in der Fed werden Stimmen für einen 0,5-%-Punkte-Schritt laut. Und was preisen dann die Märkte ein?
Abgeleitet aus den Fed-Fund-Futures-Preisen ermittelt das CME-Fedwatch-Tool Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Zinsentscheidungen. Die Futures-Preise vom 17. Feber signalisieren, dass bis zur Fed-Sitzung am 14. Juni die Leitzinsen auf 5,25 bis 5,50 % steigen werden, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von 52,9 %. Bis zur Sitzung am 26. Juli 2023 liegt die Wahrscheinlichkeit für 5,25 bis 5,50 % bei 49,2 %, und darüber bei 20,5 %. Konkret bedeutet dies die Einpreisung des Leitzins-Hochs für Juni oder Juli 2023, und zwar bei 5,25 bis 5,50 %. Angesichts des historisch abgeleiteten Potenzials ist die Enttäuschungsgefahr groß.
Ähnliches gilt auch für den Euroraum, wo der ein- und zweijährige Euro-Swapsatz mit je 3,547 bzw. 3,497 % ein voraussichtliches Leitzinshoch von 3,50 % einpreist (aktueller Stand: 3,00 % im Hauptrefinanzierungssatz), während der 30-Jahres-Swapsatz nur noch bei 2,457 % liegt.
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