Haben wir die Inflation im Griff?

Erhöhte Chancen auf Zinserleichterungen im Jahr 2024.

Michael Kordovsky. Der US-Dienstleistungssektor ist nahe der Stagnation, während sich die Produktionswirtschaft in den Staaten langsam auf niedrigem Niveau stabilisiert. Mittlerweile kühlt sich der US-Arbeitsmarkt ab: Nach zwei Monaten mit einem Level von 3,8 % stieg die Arbeitslosenquote marginal weiter auf 3,9 %. Indessen verlangsamte sich im Oktober der Stellenaufbau außerhalb der Landwirtschaft gegenüber einem Monatsschnitt von 258.000 neuen Jobs auf 150.000 – so die Fakten.

Von September auf Oktober war die Jahressteigerung der Stundenlöhne (Privatwirtschaft ex Agrar) von 4,3 auf 4,1 % rückläufig. Noch im Oktober 2022 lag die Jahressteigerung bei 5,0 %. Im September verharrte die Headline-Inflation auf 3,7 %, während die Kerninflation (Inflation ex Energie und Nahrungsmittel) von August auf September von 4,3 auf 4,1 % zurückging. Die von der Fed genau beobachtete Teuerung persönlicher Konsumausgaben (PCE-Inflation) verharrte im September bereits den dritten Monat in Folge auf 3,4 %, während die PCE-Kerninflation von August auf September von 3,8 auf 3,7 % rückläufig war.

Dem steht ein Stabilitätsziel der Fed mit einer Inflationsrate von 2 % gegenüber. Mittlerweile weist die Fed Fund Rate mit 5,25 bis 5,50 % ein positives Realniveau auf. Die aktuelle Gemengelage veranlasste die Fed am 1. November zu einer weiteren Leitzinsanhebungspause. Die letzte Leitzinsanhebung fand am 26. Juli 2023 statt.

Futures preisen Zinssenkungen ein
Zwar sind Zinssenkungen noch nicht spruchreif, aber die Fed führt einen Balanceakt zwischen Inflationsbekämpfung und der Rücksichtnahme auf eine schwächelnde Konjunktur durch. Die US-Wirtschaft ist allerdings stärker als jene der Eurozone und Fed-Chef Jerome Powell nennt ihren Zustand sogar „überraschend robust“. Das BIP wuchs im dritten Quartal im Vergleich zum Vorquartal auf das Jahr hochgerechnet um 4,9 %. Das ist der stärkste Zuwachs seit dem vierten Quartal 2021. Eine zu starke Konjunktur birgt in sich erneute Inflationsrisiken, weshalb am Terminmarkt die Renditen zehnjähriger US-Treasuries zwischenzeit-lich fast 5 % erreichten, ehe bis 3. November eine massive Korrektur auf 4,544 % folgte.

Gemäß dem aus Futures-Preisen abgeleiteten „CME Fed Watch Tool“ sind mittlerweile weitere Leitzinsanhebungen unwahrscheinlich und bereits für die Fed-Sitzung am 12. Juni 2024 preisen die Märkte die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung (auf 5 bis 5,25 % oder darunter) mit 67 % ein. Die höchste Wahrscheinlichkeit fällt auf ein Leitzinsniveau von 5 bis 5,25 %.

Starker Inflationsrückgang spricht für Leitzinspeak
Ebenfalls rückläufige Leitzinsen werden im Euroraum eingepreist. Im Sommer 2024 könnte die EZB damit beginnen und bis Herbst 2025 wären laut aktuellen Markteinschätzungen im Hauptrefinanzierungssatz (derzeit 4,50 %) Rückgänge bis 3 % möglich. Doch geopolitische Faktoren (z. B. ein Ölpreisschock) sollten nicht außer Acht gelassen werden.

Rein volkswirtschaftlich betrachtet könnte nach jüngsten Inflationszahlen das Leitzinsniveau bereits den Peak erreicht haben: Noch im August lag die Teuerung des HVPI im Euroraum bei 5,2 %. Im September folgte ein starker Rückgang auf 4,3 %, gefolgt von einem regelrechten Paukenschlag im Oktober: Die Jahresteuerung verlangsamte sich auf 2,9 %. Mittlerweile verzeichnen infolge von Basiseffekten bereits zwei Euroländer rückläufige Verbraucherpreise im Oktober, nämlich Belgien (-1,7 %) und die Niederlande (-1,0 %). Die im HVPI mit 10,23 % gewichtete Energiepreiskomponente beschleunigte gegenüber dem Vormonat ihre rückläufige Jahresveränderung von -4,6 auf -11,1 %.

Energieversorger haben nämlich bereits mit Preissenkungen begonnen. Doch auch die Teuerung von Industriegütern ohne Energie entwickelte sich von 4,1 auf 3,5 % rückläufig, und die einst von der EZB kritisch beäugte Kerninflation (Teuerung des HVPI ohne Energie, Lebensmittel, Alkohol und Tabak) war von September auf Oktober von 4,5 auf 4,2 % rückläufig.

Die weitere Vorgangsweise publizierte die EZB am 26. Oktober (EZB-Ratssitzung) mit folgendem O-Ton: „Der EZB-Rat ist entschlossen, für eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen Ziel von 2 % zu sorgen. Auf Grundlage seiner aktuellen Beurteilung ist der EZB-Rat der Auffassung, dass sich die EZB-Leitzinsen auf einem Niveau befinden, das – wenn es lange genug aufrechterhalten wird – einen erheblichen Beitrag zu diesem Ziel leisten wird. Die zukünftigen Beschlüsse des EZB-Rats werden dafür sorgen, dass die Leitzinsen so lange wie erforderlich auf ein ausreichend restriktives Niveau festgelegt werden. Bei der Festlegung der angemessenen Höhe und Dauer des restriktiven Niveaus wird der EZB-Rat auch künftig einen datengestützten Ansatz verfolgen.“

Was dabei zählt, ist die Einschätzung der Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Wirtschafts- und Finanzdaten, die Inflationsentwicklung und die Wirkung jüngster geldpolitischer Beschlüsse.

Fazit
Eine längere Zinsanhebungspause und ab Sommer 2024 erste Leitzinssenkungen in den USA und im Euroraum erscheinen rein volkswirtschaftlich betrachtet aktuell plausibel. Doch geopolitische Verzerrungen und eine zu starke US-Konjunktur sowie Konjunkturprogramme in China könnten andere Szenarien einleiten.

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