Versicherer müssen Selbstbestimmung ermöglichen

Zu Besuch in Graz: Merkur-CEO Ingo Hofmann im großen Vorsorge-Talk mit dem Börsen-Kurier.

Marius Perger. Angesichts hoher Inflation, steigender Zinsen und schwächelnder Konjunktur stellen sich Versicherern zunehmend Fragen nach Leistbarkeit für den Kunden, nach Prämienanpassungen und zum Umgang mit den gestiegenen Kosten. Entscheidend sei, wie weit das leistbar sei, was dem Kunden wichtig ist, betont Ingo Hofmann (Foto rechts), CEO der Merkur Versicherung AG, im Gespräch mit dem Börsen-Kurier. Aus Versicherungssicht werde diese Frage nur durch persönliches Risikomanagement zu beantworten sein. Der Begriff, der sowohl in der Krankenversicherung als auch in der Vorsorge mit einem Wort das Wichtigste beschreibt, sei dabei „Selbstbestimmung“.

Mit anderen Worten: Es gehe darum, ob jemand haben will, dass ein System darüber entscheidet, wo, wann und wie er behandelt wird, wenn es ihm wirklich schlecht geht und er echten Handlungsbedarf hat.

Modulare Antworten gefragt
Um die Leistbarkeit künftig sicherzustellen, dürfe man deshalb nicht mehr davon ausgehen, dass es ein Produkt für alles gibt, so Hofmann. Man müsse modular darauf antworten, mit einem sehr persönlichen Risikokonzept. Dies sei „die größte Herausforderung, vor der wir aktuell stehen“. Viele hätten zwar immer gerne eine Vollkaskolösung – nötig seien aber vielleicht eine Vollkaskolösung mit einer etwas höheren Selbstbeteiligung oder der Ausschluss bestimmter Gefahren. Versicherer seien gefragt, solche Lösungen anzubieten. Dann werde man auch die aktuellen Entwicklungen zu den Themen Preis und Inflation „sehr sinnvoll beantworten können“.

Die Kosten in den Griff bekommen
Eine Herausforderung für Versicherer ist auch eine geänderte Kostensituation – sei es durch die zunehmende Zahl an Wahlärzten, durch teure medizinische Apparate oder durch die demografische Entwicklung. Man könnte sich stundenlang über das Thema Kosten unterhalten, so Hofmann. Jedenfalls sei eine Verschiebung von einer kassenärztlichen zu einer privatärztlichen Behandlung mit einer Kostensteigerung verbunden. Das bereite auch den Versicherern Sorgen, „weil wir einen Mix aus beidem brauchen“. Bei einem höheren Anteil privatärztlicher Leistungen seien die bisher kalkulierten Tarife auf Sicht nicht haltbar. Es könne aber nicht die Lösung sein, Leistungen einzuschränken oder zu deckeln.

Nicht das System ist in Frage zu stellen
Österreich besitze eines der besten Gesundheitssysteme weltweit, betont Hofmann. Häufig werde dennoch von einem „kranken Mann“ gesprochen. Doch nicht das System selbst, sondern die Strukturen im System sind krank, ist der Merkur-CEO überzeugt. Hier sei etwas auseinandergelaufen, was nicht auseinanderlaufen darf. Alle Beteiligten – Politik, Regulatorik, Sozialversicherungen, Ärztekammern und private Versicherungswirtschaft müssten sich an einen Tisch setzen, um zu Lösungen zu kommen, die dem System in seinen Strukturen guttun. Zu diskutieren sei die Frage, „Wie können wir mit allen Beteiligten, die dafür notwendig sind, wieder eine Stabilität der Strukturen schaffen?“ Das System als solches sei nicht zu überdenken, es seien Stellschrauben, die neu justiert werden müssen.

Keine Symptombekämpfung
Die Frage nach den Strukturen beinhalte auch die Frage, wer für die Strukturen verantwortlich ist. Dies seien Privatversicherungswirtschaft und öffentliche Hand genauso wie jene, die die Dienstleistung erbringen.

Und schließlich müsse man auch Veränderungen akzeptieren. So werde es zunehmend eine Verlagerung von stationärer zu ambulanter und von ambulanter zu digitaler Medizin geben. Das müsse man auch den Versicherten bewusst machen. Um Lösungen zu finden, müsse man sich von den Symptomen entfernen und auf die Ursachen konzentrieren. Symptome zu bekämpfen sei einfach, setze man aber bei der Ursache an, so falle es leichter, nachhaltige oder tiefergehende Lösungen zu schaffen.

Den Bedarf des Kunden erkennen
Im zweiten Teil des Gesprächs ging es darum, wie konjunkturabhängig Versicherer sind, wie die Versicherungswirtschaft mit konjunkturellen Schwankungen umgeht und wo es heute noch neue Potenziale gibt.

Es sei für Versicherer zwar möglich und legitim, danach zu fragen, wo es Optimierungspotenzial für Cross- oder Upselling gibt, so Hofmann. Allerdings sei dieser Gedanke limitiert. Wenn man als Versicherer nicht verstehe, was der Kunde will, werde man auch nicht ertragreich wachsen können.

Es sei nötig, Lösungen anzubieten, die dabei helfen, das emotionale Bedürfnis der Kunden zu erkennen und ihren Bedarf abzuklären und zu filtern. Dann werde man gemeinsam mit dem Kunden Lösungen entwickeln, die er möchte, und für sich als Versicherer Zukunft gestalten können.

Als Versicherer sei man gefordert, dem Kunden ein persönliches Risikokonzept anzubieten, also die Lebenssituation und die Lebensphasen abzubilden und dann dem Kunden die Chance zu geben, das auszuwählen, was er für wichtig hält.

Intelligente Produkte schaffen
In diesem Zusammenhang sei es für die Merkur sehr wichtig gewesen, die ehemalige Nürnberger Versicherung Österreich als Teil des Konzerns zu integrieren, weil man damit die Abdeckung der biometrischen Risiken als strategischen Teil dazubekommen konnte. Es stelle nun eine Herausforderung dar, die Produkte nicht nur nebeneinanderzustellen, sondern daraus „intelligente Themen“ zu schaffen, um dem Kunden individuelle Lösungen anbieten zu können: „Wenn ich das schaffe, werde ich auch als Unternehmen ertragreich sein.“

Eine Rolle spielen könnte dabei auch Künstliche Intelligenz, denn höchst individualisierte Produkte seien bisher aufgrund der Komplexität bei der Abrechnung nicht möglich gewesen. Nun habe man einen Schlüssel in die Hand bekommen, junge, moderne Produkte zu schaffen. „Deswegen bin ich so zuversichtlich, dass wir in den nächsten zwei, drei, vier Jahren so etwas auch präsentieren können, dass so etwas auch möglich wird, was bisher eine Spinnerei war“, so Hofmann. Die Rahmenbedingungen dafür würden heute bereits existieren.

Mehr Gemeinsamkeit entwickeln
Zuletzt sprach der Börsen-Kurier mit Hofmann noch über die staatliche Altersvorsorge und die Rolle der privaten Versicherungswirtschaft. Der Merkur-Chef erinnert daran, dass der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen schon vor mehr als 15 Jahren erklärt hat, dass aus der Alterspyramide ein Atompilz geworden sei. Noch sei das System finanzierbar, langfristig lasse sich mit einem Umlagesystem das Versprechen der Vergangenheit aber nicht aufrechterhalten. Wenn man über Lösungen nachdenke, sei es aber notwendig, dass alle involvierten Parteien an einem Tisch sitzen. Die Versicherungsindustrie könne das tollste Produkt schaffen, aber nur wenn es ins System passt, würde man eine Lösung hinkriegen. „Es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, dass wir da mehr Gemeinsamkeit entwickeln“, so Hofmann abschließend.

Foto: Börsen-Kurier