Leerverkäufe in der Dauerkritik
Für Experten sind sie wichtig für einen funktionierenden Kapitalmarkt.
Roman Steinbauer. Zumeist sind sie verpönt, oft Zielscheibe aus der Politik, um von Unzulänglichkeiten abzulenken, und sie werden moralisch als zweifelhafte Marktakteure angesehen. Short Seller (Leerverkäufer) erscheinen pauschal in einem negativen Licht. Im wöchentlichen Titel-Report der Financial Times widmete sich Chefredakteurin Roula Khalaf zuletzt diesem Thema und stellte dieser Wahrnehmung Argumente entgegen.
Ein Image der „unbändigen Gier“
Vorab: Die Zielsetzung des Leerverkäufers scheint simpel. Die Spekulation steuert einen Gewinn an, sobald der Kurs eines Wertpapiers fällt. Hierfür werden Effekten verkauft, die sich noch nicht im eigenen Depotbestand befinden. Sie werden somit geliehen, um die Aktien oder Anleihen zu einem späteren Zeitpunkt zu einem geringeren Betrag zu kaufen und somit einen Ertrag durch die Differenz zu verbuchen.
Von diversen Hedgefonds wird diese Strategie seit Jahrzehnten angewandt, da in deren Statuten ein hoher Aktionsspielraum gegeben ist, um auf vielfältige Weise Gewinnchancen zu lukrieren. Der Reiz dieser Investmentprofis basiert auf der Erkenntnis: Abwärts gerichtete Börsenphasen vollziehen sich stets rascher als dies in Perioden anziehender Kurse der Fall ist.
Ein breites Publikum erreichte diese Börsendisziplin durch den Hollywood-Spielfilm mit dem Titel „The Big Short“. Der Filmstoff nährte die Ansicht, Leerverkäufer seien moralisch eine schädigende Spezies und „Krisengewinner“, während die Mehrheit der Anleger Verluste erleide.
Missverständnisse und Vorurteile
Ein kürzlich bis Juni 2024 auferlegtes Short-Selling-Verbot durch die südkoreanische Börsenaufsichtsbehörde FSS heizte das Thema erneut an. Ausgelöst durch zwei in Hong Kong beheimatete Investmentbanken, die ungedeckt südkoreanische Wertpapiere im Umfang von 56 Billionen Won (39,5 Milliarden Euro) leer verkauften. Laut der FSS wurde die Markt-Fairness beeinträchtigt, die Entwicklung der Börse und dessen Glaubwürdigkeit untergraben.
Die Financial Times sah sich nun veranlasst, dieser Ansicht zu entgegnen. Leerverkäufe zu verbieten, führe laut Khalaf vielmehr zu verfehlten freien Kursbildungen an den Märkten, dies sei „ineffektiv und schädlich“.
Die Handelsstrategie des Short Selling sei das Herzstück einer gesunden Marktfunktion. Sie schaffe eine erhöhte Liquidität und erleichtere eine Preisfindung. Leerverkäufer nähmen auch das Risiko hoher Verluste auf sich (sofern die Notizen nicht fallen) und hätten zumeist eine intensive Research-Arbeit zu vollbringen.
Zudem rüttle ein entstehender Preisdruck in vielen Fällen erst Marktteilnehmer zu oft irrational hohen Bewertungen wach. Schieflagen rückten am Beispiel von Akteuren wie Hedgefonds-Gründer Jim Chanos (er zweifelte frühzeitig die Geschäftsmodelle von Enron und Wirecard an) rascher und noch in aufstrebenden Börsenphasen in den Vordergrund.
Auch der Begründung, Leerverkäufe würden Verkaufswellen verschärfen, tritt Khalaf entgegen. Vielmehr würden dadurch Blasenbildungen durch einseitigen, ungebremsten Optimismus frühzeitig erkannt.
Short Seller förderten die Transparenz, die Erfassung und Bewertung der Risiken, den Informationsfluss und die Liquidität.
Die Financial Times beruft sich zudem auf Erkenntnisse der Federal Reserve Bank (Fed) wonach durch Verbote des Short Selling maximal eine Verzögerung etwaiger Kursrückgänge im selben Ausmaß eintrete. Durch eine geringere Liquidität würden sich höhere Handelskosten und Preisspannen bilden. Verbote von Leerverkäufen im März 2020 in sechs europäischen Staaten hätten darüber hinaus vor allem Nachteile an kleineren Börsenplätzen bei gering kapitalisierten Werten aufgezeigt.
Foto: AdobeStock / Thanumporn