Die Krux mit der Inflation
Experten mahnen vor allzu großen Erwartungen bei den Verbraucherpreisen.
Raja Korinek/Rudolf Preyer. Die jüngste Sitzung der US-Notenbank war mit besonders großer Spannung erwartet worden. Schließlich stieg zuletzt die Nervosität darüber, inwieweit sich die erste Zinssenkung hinaus hinziehen wird. „Zu Jahresbeginn rechneten Marktbeobachter mit sechs Schritten nach unten“, konstatiert Luca Paolini, Chefstratege beim Schweizer Vermögensverwalter Pictet Asset Management, im Rahmen seines globalen Wirtschaftsausblicks. Die Annahmen wurden längst kräftig nach unten geschraubt.
Bislang bleibt der Leitzins unverändert in einer Spanne von 5,25 und 5,5 %. Fed-Chef Jerome Powell merkte auf der jüngsten Sitzung an, dass der Kampf gegen die Inflation nur langsam voranschreite. Tatsächlich hat sich die US-Inflation zuletzt ein wenig beruhigt. Im Mai stiegen die Verbraucherpreise um 3,3 % im Vergleich zum Vorjahreswert und lagen damit leicht unter den Erwartungen. Die Kernrate lag bei 3,4 %. Bei dieser Berechnung werden die besonders schwankungsfreudigen Energie-, Tabak,- und Nahrungsmittelpreise ausgelassen.
Ist die wahre Inflation höher?
Einzig, Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktanalyse der Baader Bank, kommt zu einem anderen Fazit, wie er auf seinem Vortrag im Rahmen des jüngsten Investmentabends der Dadat erläuterte: Seit Jahren besuche er Freunde in den USA, wie er sagt, und stelle alljährlich seinen eigenen Inflationstest – mit Toastbrot und Budweiser – an. Er meint in diesem Zusammenhang, dass die offizielle Inflation nicht stimme. Zuletzt sei Halver auf einen Wert eindeutig über den aktuellen US-Verbraucherpreisen (CPI) gekommen.
Dabei sollte ein wesentlicher Punkt nicht unterschätzt werden. Zu einer höheren Inflation komme es schon allein deshalb, da Trinkgelder bei Restaurantbesuchen automatisch abgebucht würden. Halver sieht darin im Übrigen eine Unsitte, wie er konstatiert. Alles in Allem meint der Kapitalmarktexperte: „Von der höheren Inflation werden wir so schnell nicht mehr herunterkommen.“
Auch die jüngsten Daten aus der Eurozone deuten auf eine hartnäckige Entwicklung. So legten die Verbraucherpreise im Monat Mai um 2,6 % – und damit mehr als erwartet – im Vergleich zum Vorjahreswert zu. Entsprechend vorsichtig gaben sich die europäischen Währungshüter auf der Juni-Sitzung. Der Leitsatz wurde dennoch um 25-%-Punkte auf 4,25 % gesenkt. Allerdings revidierte die EZB ihre Prognosen nach oben. So wurde die Gesamtinflation auf 2,5 % für 2024 und 2,2 % für 2025 angehoben.
Dennoch gehe laut Paolini die Entwicklung in der Eurozone insgesamt in die richtige Richtung. Der Pictet-AM-Experte verweist zudem auf einen weiteren Aspekt in der Eurozone, der ihn zuversichtlich stimmt. So dürfte das Wachstum allmählich anziehen. Das BIP könnte im laufenden Jahr dabei um gut 0,8 % wachsen.
Das Konsumentenvertrauen steigt wieder
Doch was stimmt den Marktexperten derart zuversichtlich? Dazu dürfte unter anderem das steigende Konsumentenvertrauen in der EU beitragen, das von einigen Faktoren beflügelt wurde, zu denen höhere Löhne und gesunkene europäische Gaspreise zählen. Die Gaspreise hatten in der Region einen kurzen, scharfen Höhenflug nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Frühjahr 2022 erlebt.
Ein wenig Vorsicht lässt Halver von der Baader Bank jedoch bei den Entwicklungen in Deutschland walten. Dessen Wirtschaftspolitik hat jüngst für reichlich Schlagzeilen gesorgt, auch da die Energiewende in Richtung Nachhaltigkeit die Strompreise verteuert hat.
Doch auch beispielsweise das drohende Aus der Verbrennermotoren sorgt für Skepsis. Deutschland sei insgesamt auf dem Weg zur De-Industrialisierung, mahnt Halver: „Alle großen Länder lassen das Verbrenner-Auto weiterlaufen. Was Deutschland groß gemacht hat, lassen wir hingegen links liegen.“
Alles in Allem räumt Paolini europäischen Aktien in nächster Zeit dennoch die besseren Chancen gegenüber jenen aus den USA ein, zumal sie derzeit vergleichsweise besonders günstig bewertet seien. Allein im MSCI-Europe-Index lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) per Ende Mai bei 14,92, im MSCI USA hingegen bei knapp 26, wozu freilich zu einem Großteil der starke Kursanstieg der US-Technologieaktien beigetragen hat.
Der Euro könnte aufwerten
Als weiteres „Zugpferd“ sieht Paolini dabei aber auch den günstigen Euro – etwa im Verhältnis zum US-Dollar. Denn damit vergünstigt sich der Einstieg internationaler Investoren bei Aktien in der Eurozone. Überhaupt sei der Dollar derzeit gut 15 bis 20 % überbewertet, ein Umstand, der freilich nicht ewig andauern könne. Paolini begründet solch eine Einschätzung etwa mit dem sehr hohen Budgetdefizit der USA. Halver von der Baader Bank liefert konkrete Zahlen: „Eine Billion Dollar zahlen die Amerikaner jedes Jahr an Zinsdienst.“
Der US-Dollar sollte Paolini zufolge angesichts solcher Entwicklungen deshalb – etwa gegenüber dem Euro – an Wert verlieren. Bis Jahresende könnte die US-Währung rund 3 % nachgeben. Auf die kommenden fünf Jahre könnte der Verlust sogar bis zu gut 10 % ausmachen, so die weitere Prognose.
Als Leitwährung dürfte der US-Dollar seinen Status dennoch nicht verlieren, ergänzt Halver. So nahm etwa der Anteil des Euro an den weltweiten Devisenreserven allein im vergangenen Jahr um 1 %-Punkt auf 20 % ab, wie die EZB erst vor Kurzem mitteilte. Wichtigste Währung bleibe der US-Dollar mit einem um 0,3-%-Punkte gestiegenen Anteil von 58,4 %.
Einzig, auch in den USA gebe es Paolini zufolge derzeit interessante Anlagechancen, die Anleger ebenso wenig außer Acht lassen sollten.
So böten ihm zufolge beispiels-weise US-Unternehmensanleihen mit guter Bonität Potenzial. „Solche Papiere könnten in den kommenden fünf Jahren interessante Erträge abwerfen.“ Denn die Renditen, die sich aktuell erzielen lassen, sind im Vergleich zu den vergangenen Jahren hoch, das Risiko im Vergleich zu einem Aktieninvestment hingegen ein gutes Stück überschaubarer.
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