Warum Investoren Inflation nicht fürchten, sondern sich darauf vorbereiten sollen
Von Brad Slingerlend, Mitbegründer von NZS Capital und Investor aus Denver, USA. Jupiter Asset Management ist strategischer Partner von NZS Capital.
(17.05.) Investoren sollten sich weniger damit beschäftigen, Marktprognosen zur Inflation anzustellen, sondern mehr darüber nachdenken, welche Auswirkungen unterschiedliche Szenarien auf sie hätten.
Jeder, der die Finanzmärkte verfolgt, hat mit Sicherheit die wachsenden Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit Inflation mitbekommen. Aktuell wurden diese durch mehrere Konjunktur- und Liquiditätspakete von Regierungen und Zentralbanken weltweit – mit dem Ziel der Bewältigung der pandemiebedingten wirtschaftlichen Folgewirkungen – neu angeheizt.
In den USA zum Beispiel trugen die jüngsten Bedenken über das 1,9 Billionen Dollar schwere Corona-Hilfspaket und das geplante Infrastrukturpaket im Wert von 2 Billionen Dollar von Präsident Joe Biden dazu bei, dass die sogenannte 10-Jahres-Breakeven-Inflationsrate das von der Federal Reserve vorgesehene Inflationsziel von 2 Prozent um etwa 30 Basispunkte überschritten hat. Dabei handelt es sich um einen weit verbreiteten Indikator für Inflationserwartungen.
Wechselspiel zwischen Aufwärts- und Abwärtsdruck
Kurzfristige Inflationsschübe sind häufig eine Folge von Verknappung – Halbleiter-Engpässe verursachen zum Beispiel einen Preisanstieg bei Grafikkarten. Langfristig gesehen ist Inflation jedoch ein Wechselspiel zwischen dem Aufwärtsdruck durch Bevölkerungswachstum und Schuldenzuwachs sowie dem Abwärtsdruck durch Effizienzsteigerungen und die daraus resultierenden niedrigeren Produktionskosten.
Auch wenn die globale Gesamtverschuldung weiter ansteigt – allein im letzten Jahr kletterte diese nach Daten des Institute of International Finance um 24 Billionen US-Dollar auf einen Rekordwert von insgesamt 281 Billionen – hat sich das weltweite Bevölkerungswachstum in den letzten 60 Jahren halbiert und liegt aktuell bei knapp über einem Prozent, während die Bevölkerung der USA ohne Zuwanderung sogar schrumpfen würde.
Im gleichen Zeitraum hat sich der technologische Fortschritt exponentiell beschleunigt, was mit einem Multiplikatoreffekt in puncto Produktivität einherging. Schon ein einziges Nvidia A100-Grafiksystem im Wert von 100.000 US-Dollar kann einen Durchbruch bedeuten, wenn dessen täglicher Mehrwert die Kosten um ein Vielfaches übersteigt. Das gesamte, in der Cloud liegende Potential ist noch weitaus größer.
Zinssätzen von nahezu null Prozent und Anlagenkäufen durch Zentralbanken, die zu einer Phase erheblichen Schuldenanstiegs geführt haben, steht somit eine viel bedeutendere Phase des immer schneller werdenden technologischen Fortschritts gegenüber.
Warum sind die Märkte so überzeugt davon, dass wir vor einem enormen Inflationsschub stehen? Vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass die Konjunkturpakete nicht für neues Wachstum verantwortlich waren, sondern die wirtschaftliche Aktivität ersetzten, die in den schlimmsten Phasen der Pandemie zum Stillstand kam.
Wird der inflationäre Druck durch technologischen Fortschritt ausgeglichen?
Ist es denn keine logische Schlussfolgerung, dass der durch die höhere Verschuldung bedingte inflationäre Druck durch das deflationäre Potential des sich verlangsamenden Bevölkerungswachstums und des schnelleren technologischen Fortschritts ausgeglichen oder sogar ganz aufgehoben wird? Zumal sich der technologische Fortschritt im beginnenden Zeitalter der künstlichen Intelligenz noch weiter beschleunigen könnte.
Ich würde diese Frage mit „möglicherweise, aber vielleicht auch nicht“ beantworten. Das liegt daran, dass dieses außerordentlich komplexe Weltwirtschaftssystem durch zahllose weitere Variablen beeinflusst wird, und schon auf kleinste Veränderungen und Inputs auf unterschiedlichste Art reagiert. Aufgrund dieser Sensitivität ist es sehr schwierig, eine präzise Vorhersage über die zukünftige Inflation zu treffen.
Die einzig mögliche, annähernd präzise Prognose ist die, dass es von Zeit zu Zeit Phasen kurzfristiger inflationärer Schocks geben wird. Wie bedeutend diese sind, wann sie eintreten und wie lange sie andauern, lässt sich jedoch nicht genau sagen.
Das bestätigt einmal mehr eine alte Weisheit: Man kann vorhersagen, dass etwas passieren wird, oder man kann den Zeitpunkt dieses möglichen Ereignisses vorhersagen, aber niemals beides. Indem man Überlegungen anstellt, welchen Verlauf unterschiedliche Prognosen in einem komplexen, adaptiven System wie dem der Weltwirtschaft nehmen könnten, kann man sich selbst optimal positionieren, um vom Wachstum zu profitieren, aber auch die schlimmsten unausweichlichen Wirtschaftsabschwünge zu vermeiden.
Menschen tendieren dazu, optimistisch zu sein. Das ist zunächst eine gute Eigenschaft, die aber gleichzeitig die Gefahr birgt, Risiken zu unterschätzen und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass „Fat Tail Events“ (negative Ausreißer außerhalb der Normalverteilung) unsere Pläne durchkreuzen. Solche sogenannten „Black Swan Events“ treten häufiger auf als man denkt.
Dennoch ist es möglich, so zu investieren, dass das Gesamtrisiko minimiert und die Chancen optimiert werden: indem Portfolios konstruiert werden, die zu einem wesentlichen Teil auf größeren Positionen in robusten, für die Disruption gewappneten Unternehmen aufbauen. Ausgleichend sollten zu einem kleineren Teil auch Anteile von Unternehmen gehalten werden, die das Potential haben, sich eines Tages zu widerstandsfähigen Disruptoren zu entwickeln.
Die digitale Transformation der Weltwirtschaft beschleunigt sich. Um von diesem Phänomen zu profitieren, dürfen Investoren nicht in der Denkweise des Industriezeitalters des 20. Jahrhunderts verharren. Anstatt sich zu viele Sorgen über die Inflationsrate zu machen, sollte der langfristige Blick des Investors auf anpassungsfähige Unternehmen mit robustem oder disruptivem Charakter gerichtet sein. Denn aufgrund dieser Eigenschaften können diese von solchen Schwankungen profitieren.
Foto: NSZ Capital