Ein Leitzins so hoch wie das Inflationsniveau?
Ein Kommentar von Olivier de Berranger, CIO beim Assetmanager LFDE.
(20.09.) Die am 13. September veröffentlichte US-Inflationsrate lag mit 8,3 % im August leicht über den erwarteten 8,1 %. Angesichts der geringen Differenz zwischen den Erwartungen und der tatsächlichen Zahl hätte sie harmlos wirken können. Dennoch war sie ein Schock für die Märkte. Die amerikanischen Aktienindizes verloren mehr als 4 % und hatten damit ihren schlechtesten Tag seit Juni 2020. Ein Anzeichen für die Nachhaltigkeit dieses Schocks ist die Tatsache, dass sich der Markt seither nicht erholt hat – anders als es sonst nach einer derartigen Baisse üblich ist. Er rutschte sogar noch weiter ab. Die langfristig schwerwiegendsten Folgen sind wenig offensichtlich. Wie konnte es dazu kommen bei einer doch eigentlich harmlosen Differenz?
Um dies zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Erwartungen des Marktes in Sachen Leitzinserhöhungen. Mitte August rechneten die Marktteilnehmer noch mit Leitzinsen in Höhe von 3,5 % bis zum Jahresende.* Die Reden der Mitglieder des geldpolitischen Ausschusses der USA hatten allerdings zur Folge, dass der Markt seine Erwartungen nach oben korrigierte. So schnellten sie im Laufe eines einzigen Tages, nämlich dem der Veröffentlichung, auf 4,25 %. Das sind 75 Basispunkte mehr als im Monat davor, was im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte bereits hoch war. Diese Differenz ist nun allerdings alles andere als harmlos.
US-Wohnungsmarkt lässt nachhaltige Inflation erahnen
Für die Marktteilnehmer stellt nicht einmal das bereits erwartete globale Inflationsniveau das Hauptproblem dar. Sie fürchten vielmehr ein noch tiefer liegendes Problem, nämlich die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Allen Erwartungen zum Trotz schießen die Mieten weiter in die Höhe. Da die Darlehenszinsen ebenfalls weiter steigen, muss man sich auf hartnäckige Forderungen nach Lohnerhöhungen einstellen. Diese lassen sich angesichts des nach wie vor sehr robusten US-Arbeitsmarkts wohl kaum zurückweisen. Dies deutet auf eine eher nachhaltige Inflation hin. Somit dürften auch die Zentralbanken langfristig bei ihrer kämpferischen Haltung bleiben und einen Dämpfer für das Wachstum in Kauf nehmen – zumindest solange der Arbeitsmarkt nicht einbricht.
Auf die Anleger kommt also eine Phase zu, die nur wenige von ihnen schon einmal erlebt haben und die sehr stark an die 1970er-Jahre erinnert. Wenn wir sie trotz aller offensichtlichen Unterschiede – insbesondere bei der Demografie und dem Niveau der Staatsverschuldung – noch einmal durchmachen müssen. Welches sind nun aber die Lehren, die es angesichts der scheinbaren Dauerhaftigkeit der US-Inflation zu berücksichtigen gilt?
Lehren aus der Inflation der 1970er-Jahre
Erstens: Die Inflation in der westlichen Welt kann lang anhaltende Höchststände erreichen. Ende 1974 gipfelte sie in den USA bei 12 %. Nach einer leichten Verschnaufpause (immerhin um die 5 % Ende 1976) stieg sie Anfang 1980 auf nahezu 15 %. Das sind Größenordnungen, die mit der aktuellen Episode noch nichts zu tun haben, die aber mehrere Länder der Eurozone bereits erreicht oder sogar überschritten haben, vor allem im Osten.
Zweitens: Auch die Leitzinsen können Spitzenwerte erreichen: 1974 waren es 13 % und 1980 sogar 20 %. Dagegen sind die zurzeit erwarteten 4 bis 5 % gar nichts. Auch wenn man den damaligen Durchschnitt heranzieht, erkennt man die Extreme dieser Niveaus. Denn zwischen 1971 und 1990 lag das durchschnittliche Niveau bei 8,25 %.
Drittens: Die 10-jährigen Zinsen lagen zuweilen deutlich unter den Leitzinsen, sind ihnen aber dennoch immer gefolgt, in der Regel mit einer gewissen Verzögerung. So überstiegen sie 1981 die 15 % und ihr Durchschnitt lag zwischen 1970 und 1990 bei 9 %, also dicht an den Leitzinsen. Die Entkopplung dieser beiden Zinssätze ist meist nicht von Dauer.
Viertens: Schließlich sind die Leitzinsen – und das ist die vielleicht besorgniserregendste Lektion – nur selten stark von den globalen Inflationsniveaus abgekoppelt. Die US-Notenbank hatte sich seinerzeit nicht gescheut, die geldpolitischen Bedingungen drastisch zu straffen, sobald die Inflation stieg, und beließ die Leitzinsen in den gesamten 1980er-Jahren sogar deutlich über dem Inflationsniveau.
Investoren sollten Lehren aus der Vergangenheit ziehen
Nichts wird sich genauso abspielen wie zu der Zeit der Banker mit Schlaghosen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass der Bereich des Möglichen bei Zinsen und Inflation immer noch größer ist als das, was wir in 30 Jahren erlebt haben. Um für den Ernstfall vorbereitet zu sein, ist es ratsam, für die Zukunft Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen – und die Portfolios anzupassen.**
*Die Konsenszahlen stammen von Bloomberg
**Die in diesem Dokument ausgedrückten Meinungen entsprechen den Markteinschätzungen von LFDE zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Sie können sich entsprechend den Marktbedingungen ändern und LFDE übernimmt keine Haftung dafür.