Kater nach dem Höhenflug

EY-Start-up-Barometer 2022: Finanzierungen brechen nach Rekordstart im zweiten Halbjahr stark ein.

(30.12.) Nachdem 2021 weltweit alle Rekorde in Hinblick auf Start-up-Finanzierungen geknackt wurden, haben steigende Zinsen, wirtschaftliche Unsicherheiten, Inflation und eine drohende Rezession das Marktumfeld stark eingetrübt. Die Kombination dieser Faktoren und die wirtschaftliche Lage veranlassen Risikokapital-Finanzierer weltweit zu mehr Zurückhaltung und sorgen für ein deutliches Abbremsen am Finanzierungsmarkt für Start-ups und Scale-ups.

Besonders betroffen sind börsennotierte Tech-Unternehmen sowie hoch bewertete Scale-ups oder Unicorns mit Fokus auf ein starkes, schnelles Wachstum. Aufgrund des schwierigen Marktumfelds zögern Venture Capitalists weltweit trotz geschätzt rund 500 Milliarden Dollar in der Kasse mit weiteren Finanzierungsrunden und richten den Fokus stärker auf das Management ihres eigenen Portfolios. Aufgrund der deutlich nach unten korrigierten Wachstumsprognosen gab es in den vergangenen Monaten bereits größere Entlassungswellen bei Scale-up-Unternehmen. Auch Österreichs Start-ups und Scale-ups stellen sich aktuell auf längere Phasen bis zur nächsten Finanzierungsrunde, geringere Bewertungen und Volumina sowie weniger ambitionierte Wachstumsziele ein.

In den Zahlen für 2022 lässt sich diese deutliche Eintrübung des Finanzierungsmarkts für österreichische Start-ups eindeutig im zweiten Halbjahr ablesen. Nach einem sehr starken ersten Halbjahr mit insgesamt 881 Millionen Euro Investments – einer neuen Rekordmarke – ist der Markt im zweiten Halbjahr 2022 deutlich eingebrochen: In den vergangenen sechs Monaten wurden nur noch 125 Millionen Euro investiert – das sind um 83 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Damit liegt das Volumen auf dem Niveau der beiden 2020er-Halbjahre, nachdem es zuvor drei Halbjahre in Folge gestiegen war und – insbesondere aufgrund von Mega-Deals – Werte jenseits der 500-Millionen-Euro-Marke erreicht hatte. Die Zahl der registrierten Abschlüsse übertraf hingegen im siebten Halbjahr in Folge die Marke von 50. Gegenüber dem ersten Halbjahr 2022, das mit 79 Finanzierungsrunden das anzahlmäßig abschlussstärkste Halbjahr im Untersuchungszeitraum war, ging die Zahl der Deals im zweiten Halbjahr allerdings deutlich zurück – um 17 Deals auf 62.

Das sind Ergebnisse des Start-up-Barometers Österreich der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY. Berücksichtigt wurden Unternehmen mit Hauptsitz in Österreich, deren Gründung höchstens zehn Jahre zurückliegt.

Zurückhaltung am Finanzierungsmarkt – Fokus auf Profitabilität und Anreize für Investitionen wichtig
„Weltweit ist die Goldgräberstimmung des Boom-Jahres 2021 der Ernüchterung gewichen. Viele Geldgeber sind nervös, die Risikobereitschaft sinkt, ebenso wie die Bereitschaft zu investieren. Viele Scale-ups und Unicorns haben von Hypergrowth auf Überlebensmodus geschaltet, in vielen stark gefundeten Wachstumsunternehmen gibt es aktuell Entlassungen. Das Stimmungsbild hat sich innerhalb weniger Monate komplett gedreht – allerdings ist auch das eine Momentaufnahme. Wie nachhaltig der Krisenmodus ist, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, insbesondere der Zinspolitik, der Höhe der Inflation und dem Ausmaß der drohenden Rezession“, sagt Florian Haas, Head of Start-up bei EY Österreich.

In Österreich gab es 2022 einen Rückgang der Finanzierungssumme um 18 Prozent von 1,23 auf 1,0 Milliarden Euro. Das ist immer noch das zweithöchste Investmentvolumen, das je innerhalb eines Jahres in österreichische Start-ups investiert wurde. Allerdings vereinigten die zwei großen Finanzierungsrunden von GoStudent mit 300 Millionen Euro sowie TTTech Auto mit 250 Millionen Euro rund 55 Prozent des gesamten Investitionskapitals auf sich. Auch die weiteren Top-Investments des Jahres fanden im ersten Halbjahr statt: Die Top-5 nach Volumen komplettieren Waterdrop und PlanRadar mit je 60 Millionen Euro sowie der Logistik-Spezialist byrd mit 53 Millionen Euro.

„In Österreich hat der Start-up-Höhenflug des Vorjahres im stürmischen Umfeld insbesondere im zweiten Halbjahr deutlich abgebremst. Die bereits seit einigen Monaten weltweit zu beobachtende starke Zurückhaltung der Investoren in Hinblick auf Wachstumsfinanzierungen und Kapitalspritzen außerhalb des eigenen Portfolios lässt sich mit leichter Verzögerung auch an den Zahlen ablesen. Nachdem es im ersten Halbjahr noch dank einiger Millionenrunden, die noch 2021 verhandelt wurden, einen neuen Finanzierungsrekord gab, ist der Markt im zweiten Halbjahr deutlich ruhiger geworden. Gerade bei der Wachstumsfinanzierung, die in Österreich fast ausschließlich durch internationale Investorengruppen getätigt wird, wird sich die bereits in der zweiten Jahreshälfte zu beobachtende starke Zurückhaltung von Risikokapitalgebern auch in den nächsten Monaten niederschlagen“, so Haas.

Für Start-ups sei es jetzt besonders wichtig, sich auf die herausfordernden Monate vorzubereiten: „Start-ups und Scale-ups, die nicht durch glückliches Timing in den letzten zwölf Monaten eine Finanzierungsrunde gemacht haben, müssen sich darauf einstellen, länger als geplant mit ihren finanziellen Mitteln auskommen zu müssen und aufgrund sinkender Bewertungen weniger Geld als geplant einzunehmen. Nach dem Boom-Jahr 2021 ist wieder deutlich mehr Realismus bei den Bewertungen eingekehrt, was zu einer gewissen Marktkonsolidierung führen wird und den Fokus verstärkt auf Start-ups mit funktionierenden Geschäftsmodellen und erfolgreichen Marktaktivitäten lenkt. Investorengruppen verlagern ihren Fokus daher auch von Potenzial auf Profitabilität. Anstelle eines möglichst ambitionierten Wachstumsziels rücken für Investoren Themen wie Effizienz und Performance ganz nach oben auf die Checkliste bei der Due Diligence. Für Start-up ist es daher umso wichtiger nachzuweisen, dass ihr Geschäftsmodell einen Markt und zahlende Kundinnen und Kunden hat“, so Haas.

„Gerade für Start-ups und Scale-ups, die sich erfolgreich auf dem Markt etabliert haben und jetzt den nächsten Wachstumsschritt gehen wollen, ist die Zurückhaltung von Investorinnen und Investoren ein großes Risiko. Eine liquiditätsbedingte Vollbremsung von zukünftigen ‚Global Champions made in Austria‘ hätte auch für den Wirtschaftsstandort und das österreichische Start-up-Ökosystem sehr negative Folgen. Es braucht dringend staatlich gesteuerte Anreize, um Investitionen in Start-ups für institutionelle und private Geldgebern attraktiver zu machen, beispielsweise durch einen Dach-Fonds oder steuerliche Anreize wie einen Beteiligungsfreibetrag. Damit könnte die Lücke durch fehlende VC-Fond-Investitionen gefüllt und gleichzeitig in Zeiten hoher Inflation eine attraktive Asset-Klasse gestärkt werden. Die Reife und Professionalität des Start-up-Ökosystems in Österreich ist auch durch die aktuelle Krise nicht revidierbar“, sagt Haas.

Anzahl großer Runden für Österreichs Start-ups gestiegen
Die Anzahl der Finanzierungsrunden für österreichische Start-ups ist 2022 um rund 16 Prozent von 122 auf 141 gestiegen. Das durchschnittliche Volumen der Deals, bei denen eine Summe veröffentlicht wurde, ist aufgrund der gestiegenen Anzahl an Deals und dem Rückgang beim Volumen deutlich um rund 25 Prozent von rund zwölf Millionen Euro auf 8,92 Millionen Euro gesunken. 2020 wurden durchschnittlich pro Finanzierungsrunde nur 4,5 Millionen Euro investiert – rund die Hälfte von 2022.

Der Trend zu größeren Finanzierungsrunden in Österreich hielt auch 2022 an, allerdings mit einem leichten Rückgang im Vergleich zum Rekordjahr 2021: Die Anzahl an großen Deals mit Volumina von mehr als 10 Millionen Euro ging von 16 auf zehn zurück. Die Deals mit mehr als einer Million Euro Volumen blieben mit jeweils 45 in 2022 und 2021 gleich. Bei den Finanzierungsrunden unter einer Million Euro gab es einen Anstieg von 61 auf 80.

„Aufgrund des Einbruchs von Tech-Aktien an den Börsen stehen insbesondere Scale-ups und Unicorns knapp vor einem Börsengang enorm unter Druck und brauchen Finanzierungsspritzen, die sie im aktuellen Umfeld oft nur deutlich unter der Unternehmensbewertung der letzten Finanzierungsrunde bekommen. Dementsprechend ist die Krisenstimmung auf dem globalen Risikokapitalmarkt vor allem in einem deutlichen Rückgang von Megarunden mit mehr als 100 Millionen Euro sichtbar. Diese Runden sind in Österreich nach wie vor die Ausnahme und die starken potenziellen heimischen Unicorns haben fast alle in den letzten 18 Monaten eine Finanzierungsrunde abgeschlossen. Natürlich wird sich das eingetrübte Marktumfeld in allen Phasen zeigen, speziell in der Frühphase und bei der ersten Wachstumsfinanzierung werden die Auswirkungen zumindest kurzfristig weniger spürbar sein“, so Haas.

Software- und Technologiebranche verzeichnet die meisten Deals
Die meisten Finanzierungsrunden wurden 2022 im Softwarebereich abgeschlossen. Mit SaaS, Artificial Intelligence, Virtual Reality, Blockchain, Cloud, Cyber Security sowie Data Analytics umfasst dieser Bereich Start-ups mit neuen Technologien. Hier wurden mit 39 Finanzierungsrunden sogar acht mehr gezählt als im Vorjahr. Die Bereiche E-Commerce, Health und Mobility verzeichneten mit 19 bzw. 15 bzw. zwölf Finanzierungsrunden jeweils die gleiche Anzahl an Deals wie im Vorjahr. Nachdem 2021 aufgrund der Corona-Pandemie der Gesundheitsbereich deutlich zulegte, rangieren wieder eindeutig Tech-Unternehmen ganz oben in der Gunst der Investorengruppen.

Gleich fünf Branchen verzeichneten Zuströme an Risikokapital in Höhe von jeweils mehr als 50 Millionen Euro. Das meiste Kapital erhielten Start-ups aus dem Bereich Mobility: In zwölf Finanzierungsrunden konnten sie 333 Millionen Euro einwerben, darunter auch der zweitgrößte Deal des Jahres (TTTech Auto, 250 Mio. Euro).

Der Bereich Education brachte es in drei Finanzierungsrunden auf 302 Millionen Euro; allein 300 Mio. Euro entfielen dabei allerdings auf den Top-Deal des Jahres (GoStudent).

Auf den Rängen drei und vier folgen die Sektoren Software & Analytics und E-Commerce, deren Start-ups es auf 136 bzw. 74 Millionen Euro brachten.

Den größten absoluten Zuwachs gegenüber dem Vorjahr verzeichnete der Bereich Mobility (plus 311 Mio. Euro), das größte Minus der Bereich FinTech / InsurTech (minus 372 Mio. Euro).

Wien bleibt Start-up-Hotspot
Erneut gab es in Wien besonders viele Investitionen, die Hauptstadt konnte ihren Vorsprung als Start-up-Hotspot gegenüber den anderen Bundesländern wieder klar behaupten: Mit 81 Finanzierungsrunden (2021: 73) vereinigten die Hauptstadt-Jungfirmen 57 Prozent der hierzulande gezählten Finanzierungsrunden auf sich (2021: 60 %). Auf Rang zwei folgt Oberösterreich, wo 21 Finanzierungsrunden gezählt wurden (2021: 18), vor der Steiermark, deren Start-ups es auf 15 Finanzierungsrunden (2021: 14) brachten.

Fünf Bundesländer verzeichneten 2022 mehr Finanzierungsrunden als im Vorjahr; nur in Vorarlberg wurde mit einem Deal ein Abschluss weniger als im Vorjahr gezählt. In Salzburg blieb die Zahl der Finanzierungsrunden konstant. In Kärnten und dem Burgenland gab es wie schon im Vorjahr keine Finanzierungsrunde.

Das mit weitem Abstand meiste Kapital konnten erneut Wiener Start-ups einwerben: Mehr als drei von vier hierzulande in Start-ups investierte Euro wurden 2022 in Wiener Jungunternehmen investiert. Sieben der zehn größten Finanzierungsrunden betrafen Start-ups, die in Wien ansässig sind. Der Standort Steiermark belegt mit einem Marktanteil von rund neun Prozent Rang zwei vor Oberösterreich, das es 2022 auf einen Marktanteil von rund sechs Prozent bringt.

Nachhaltigkeit rückt stärker in den Fokus
Für Investorengruppen liegt der Fokus bei Investments in Start-ups eindeutig auf den Themen Digitalisierung und neue Technologien. Als zweiter wesentlicher Bereich hat Nachhaltigkeit in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.

2022 wurden 17 Finanzierungsrunden verzeichnet, die einen Sustainability-Bezug aufweisen. Damit hatte rund jede achte Finanzierungsrunde einen Bezug zum Querschnittsthema Sustainability. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 31 Millionen Euro in österreichische Start-ups mit Sustainability-Fokus investiert, das entspricht einem Anteil von rund drei Prozent an der insgesamt investierten Summe von 1,0 Milliarden Euro.

„Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind die bestimmenden Themen der nächsten Jahre für alle Unternehmen. Start-ups können hier als Innovationstreiber eine essenzielle Funktion einnehmen. In Österreich will nach eigenen Angaben knapp ein Drittel der Start-ups Lösungen für die ökologische Transformation, den Kampf gegen den Klimawandel, für die Dekarbonisierung oder für die Kreislaufwirtschaft bieten. Der Nährboden in Österreich für Green-Innovation-Start-ups ist sehr gut. Investorengruppen werden in diesem Bereich in den nächsten Jahren deutlich öfter und mehr investieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es das erste österreichische Green Unicorn gibt“, so Haas.