Hat die künstliche Intelligenz einen kommerziellen Wendepunkt erreicht?
(16.05.) ChatGPT hat neue Spekulationen über die Verheißungen und Gefahren künstlicher Intelligenz (KI) angeregt. Doch was ist dran am Hype um die sogenannte „generative KI“, also um Programme, die Inhalte generieren können? Hat die künstliche Intelligenz einen kommerziellen Wendepunkt erreicht und wird damit auch für Investoren interessant? Christophe Braun, Equity Investment Director bei Capital Group, ist überzeugt: „KI steht kurz davor, umfassende Veränderungen in vielen Unternehmen und Branchen auszulösen. Für Investoren ist jedoch entscheidend, sich mit den Details zu beschäftigen, um Realität und Hype unterscheiden zu können.“
Spätestens seit dem Launch von ChatGPT im November letzten Jahres stehe KI im Mittelpunkt des Interesses. Dabei sei das Verständnis und der Einsatz von KI auf breiter Ebene noch immer relativ gering. „Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey aus dem Jahr 2022 zeigt zwar, dass sich der Einsatz von KI in den letzten fünf Jahren weltweit mehr als verdoppelt hat, doch der anfängliche Überschwang scheint ein vorübergehendes Plateau erreicht zu haben“, erklärt Braun. „Möglicherweise weil sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Einführung dieser Technologie organisatorische Veränderungen erfordert.“
Dennoch würden die KI-Kapazitäten rasch zunehmen. „Aus den Gesprächen mit Unternehmen haben wir den Eindruck gewonnen, dass wir tatsächlich kurz vor einem Wendepunkt stehen könnten“, sagt Braun. Im Kern gehe es bei KI um die Fähigkeit, Vorhersagen und Entscheidungen auf der Grundlage von Trainings-Daten zu treffen. Was sich in den letzten Jahren geändert habe, sei die Tatsache, dass technische Durchbrüche es ermöglichen, KI-Modelle auf immer größeren Datenmengen zu trainieren und damit neue Funktionsebenen zu erreichen. „Wenn sich KI-Systeme weiterentwickeln, könnten sie auf dem Weg sein, bei vielen Aufgaben weitaus effizienter zu werden als die besten Menschen. Möglicherweise erreichen sie sogar ein Stadium, in dem sie beginnen, Lösungen und Produkte zu entdecken, an die Menschen noch nie gedacht haben“, erklärt Braun.
Die KI-Systeme der frühen 2000er Jahre hätten maschinelles Lernen in erster Linie zur Verbesserung ihres analytischen Modells genutzt. Das Ad-Targeting von Google und Facebook sei ein Beispiel dafür. „Generative KI hingegen kann mithilfe der so genannten ‚Transformer-Architektur‘ neue und einzigartige Inhalte erstellen“, sagt Braun. Dies ermögliche es einer KI, die Beziehungen innerhalb eines Datensatzes, beispielsweise eines Textes oder Bildes, zu verstehen und das für kreative Aufgaben erforderliche Kontextbewusstsein zu entwickeln.
Aufgrund dieser Entwicklung hätten Experten ihre zeitlichen Prognosen zur KI-Entwicklung drastisch nach vorne korrigiert. „Noch vor wenigen Jahren reichten die Schätzungen darüber, wann KI-Systeme beispielsweise eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematik-Olympiade gewinnen könnten, bis in die 2040er Jahre; heute gehen die mittleren Prognosen davon aus, dass dies noch in diesem Jahrzehnt geschehen könnte“, so Braun.
Er fasst die Entwicklung so zusammen: „Die letzten 10 Jahre sind in der Technologiebranche durch eine einzigartige Kombination aus mobilem Internet und Cloud gekennzeichnet gewesen. In beiden Bereichen haben wir eine Entwicklung von einer geringen Durchdringungsrate zur breiten Akzeptanz sehen können. KI beginnt nun den Staffelstab zu übernehmen.“
KI aus Investorenperspektive
Was bedeutet das für Investoren? Die Annahme, dass sich mit KI letztlich viel Geld verdienen lasse, zeige sich in den Aktienkursen der großen Unternehmen bislang kaum. Das private Unternehmen OpenAI, das ChatGPT entwickelt hat, werde Berichten zufolge aktuell mit 29 Milliarden US-Dollar bewertet. „Wenn die gemeldeten Zahlen korrekt sind, ist diese Bewertung allerdings mit viel Enthusiasmus verbunden“, sagt Braun. Denn obwohl das Unternehmen ehrgeizige Ziele habe, erwarte es in diesem Jahr nach eigenen Angaben nur rund 200 Millionen US-Dollar an Einnahmen.
Auch bei anderen Unternehmen, die potenziell ähnliche KI-Angebote bereitstellen könnten, spiegele sich der Enthusiasmus für KI noch nicht in ihren Bewertungen wider: „Google ist der Pionier bei Transformationsmodellen und wir sehen keine 29 Milliarden US-Dollar im Aktienkurs des Unternehmens, die seine KI-Fähigkeiten widerspiegeln“, führt Braun aus. „Meta kann ebenfalls eine starke Erfolgsbilanz bei KI-Modellen vorweisen und dennoch bleibt der Aktienkurs des Unternehmens gedrückt.“
Auswirkungen der KI auf andere Branchen
Interessant könnten für Investoren neben den Tech-Unternehmen auch andere Branchen sein, auf welche die Verbreitung von KI große Auswirkungen haben könnte. Denn neben den offensichtlichen Technologie- und Wissenssektoren gebe es weitere potenzielle Anwendungsbereiche für KI. Dazu zählt Braun Lieferkettenmanagement, Gesundheitswesen (Arzneimittelentwicklung und Scan-Analyse), Versicherungen, Öl und Gas (Auswertung von Satellitendaten), Versorgungsunternehmen (Netz- und Lastmanagement) und autonome Landwirtschaft. „Die KI-Strategie eines Unternehmens könnte deshalb zu einem immer wichtigeren Teil der Unternehmensanalyse werden“, so der Experte. „Unternehmen, die KI nutzen können, um ihr Produktangebot oder ihre Produktivität weiterzuentwickeln, könnten in den kommenden Jahren einen großen Vorteil haben.“
Auch auf die Halbleiternachfrage dürfte KI sich auswirken: „Der Halbleiteranteil in KI-Anwendungen ist sehr hoch. Es mag schwierig sein, jene Aktien zu identifizieren, die generative KI am besten nutzen, aber es gibt nur eine Handvoll Unternehmen, die die Halbleiter herstellen, auf denen diese Systeme laufen“, sagt Braun.
Fazit
Braun resümiert: „Aktuell ist KI eine faszinierende, aber etwas begrenzte Anlagegelegenheit. Mittelfristig steht die KI an der Schwelle zur Beschleunigung. Entsprechend beobachten wir die betroffenen Bereiche genau. Längerfristig wird diese Technologie die in sie gesetzten Erwartungen wahrscheinlich übertreffen. Wenn auch noch nicht klar ist, was das für die Welt bedeutet, glauben wir, dass der Schlüssel für Portfoliomanager darin liegt, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die am besten für die bevorstehenden Veränderungen positioniert sind.“