ESG in Indien: Die Erfolgsgeschichte des Landes birgt Risiken und Chancen

Ein Kommentar von Olivia Lankester, Director, Responsible Investing & Sustainability, Federated Hermes Limited.

(09.10.) Das Bruttoinlandsprodukt Indiens dürfte in den kommenden sieben Jahren um 3,3 Billionen US-Dollar steigen – ein Wachstumssprung, für den das Land zuvor 31 Jahre benötigte. Voraussichtlich wird Indien damit Japan, Deutschland und das Vereinigte Königreich überholen und bis 2030 die Position als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt erreichen.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Indien ist sowohl die fünftgrößte Volkswirtschaft als auch das Land mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt. Eine wichtige Stellung des Subkontinentes war abzusehen, und derzeit sind die Vorzeichen aus dreierlei Gründen günstig.

Zunächst einmal hat eine stabile Regierung in den letzten Jahren Reformen und strukturelle Veränderungen eingeleitet, um den Weg für zahlreiche Investitionen und neue Arbeitsplätze im formellen Sektor zu ebnen. Zu den wichtigsten Reformen gehören politische Maßnahmen zur finanziellen Inklusion, gezielten Subventionen sowie zur Elekfrizierung des Landes. Weitreichende Wirtschaftsreformen umfassten die Einführung einer landesweiten Umsatzsteuer (Goods and Services Tax), um einen einheitlichen nationalen Markt zu schaffen sowie das neue Immobiliengesetz (Real Estate Regulation and Development Act). Zudem wurden marktfreundliche Finanzprogramme wie das PLI-System (Production-Linked Incentives Scheme) ins Leben gerufen, um Anreize in 15 wichtigen Sektoren (darunter auch grüner Wasserstoff, Elektrobatterien und Elektrofahrzeuge) zu setzen.

Die Investitionen in Straßen, den Bahnsektor, Flughäfen und Häfen bewegen sich auf einem Rekordniveau. Im Unterschied zu anderen Ländern, in denen private digitale Netze dominieren, hat die indische Regierung eine öffentliche digitale Infrastruktur aufgebaut, in die sie auch weiterhin investiert. Das United Payments Interface (UPI) ist zurzeit das größte Echtzeit-Zahlungssystem weltweit mit einem Transaktionsvolumen von insgesamt einer Billion US-Dollar im vergangenen Jahr.

In den kommenden Jahren sind weitere Reformen unter Premierminister Narendra Modi zu erwarten. Aufgrund der hohen Zustimmungswerte ist es sehr wahrscheinlich, dass er bei den anstehenden Wahlen 2024 wiedergewählt wird.

Zusätzlich ist das Land durch eine demografische Entwicklung gekennzeichnet, auf die Industrieländer nur voller Neid blicken können: eine wachsende Bevölkerung mit jährlich zehn Millionen neuen einheimischen Arbeitskräften und damit einem sinkenden Abhängigkeitsquotienten. Jedoch ist das reine Bevölkerungswachstum nicht der einzige Faktor. Dank seiner Dynamik hat der indische Talentpool eine florierende und zukunftsträchtige Start-up-Szene mit zuletzt mehr als 100 Unicorns hervorgebracht.

Schließlich gibt es eine geopolitische Verschiebung, die auf die „China Plus One“- Strategie zurückzuführen ist: Bei dieser Geschäftsstrategie diversifizieren Unternehmen ihre Lieferketten, um ihre Abhängigkeit von China zu verringern. Dies hat für Indien positive Auswirkungen aufgrund der Spannungen zwischen den USA und China. Indien erscheint vielen Unternehmen aufgrund der günstigen, qualifizierten Arbeitskräfte und des großen nationalen Marktes attraktiver als beispielsweise Vietnam, Mexiko oder Malaysia.

ESG-Herausforderungen eröffnen zugleich auch Chancen
Im Zuge des rasanten Wachstums steigt auch der Energiebedarf. Diesen zu decken, hat zweifelsfrei seinen Preis, insbesondere im Zusammenhang mit ESG-Themen. Aktuell ist Indien stark von fossilen Treibstoffen abhängig und global gesehen der drittgrößte Importeur von Rohöl. Doch in den nächsten sieben Jahren wird das Land im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung eine Energiewende vollziehen. Das Erreichen der ehrgeizigen Ziele, die Hälfte der Stromversorgung aus nicht fossilen Quellen zu beziehen und kurzfristig in Solarenergie und die Produktion von grünem Wasserstoff zu investieren, wird für Indien langfristig eine größere Energieunabhängigkeit bedeuten.

Doch neben zielgerichteten Umweltschutzmaßnahmen eröffnen sich auch zahlreiche Chancen für eine soziale Inklusion, beispielsweise mit einem besseren Krankenversicherungsschutz für Indiens wachsende Mittelschicht oder Programmen für Menschen ohne Zugang zu Finanzinstituten, die Hilfe bei der Überwindung sozioökonomischer Barrieren benötigen.

ESG-Anlagen
Ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen (aktuell 2.500 US-Dollar), die Urbanisierung und die Abwanderung aus der Landwirtschaft in besser bezahlte Berufe sind ein vielversprechender Indikator für diskretionäre Verbraucherausgaben und die Marktdurchdringung von Waren und Dienstleistungen. Die Zahl inländischer Investitionen an den Finanzmärkten steigt und deutet auf eine Ausweitung der Marktbasis hin. Doch bislang sind nur fünf Prozent des Haushaltsvermögens in Aktien investiert. Hier gibt es noch viel Potenzial zu erschließen.

Es ist davon auszugehen, dass die indische Börsenaufsichtsbehörde (Securities and Exchange Board of India) die ESG-Berichterstattung weiter voranbringen wird. Mit dem beschleunigten Wachstum Indiens steigt das Risiko disruptiver Veränderungen in den Bilanzen von Unternehmen, die eine Dekarbonisierung anstreben. Darüber hinaus ergibt sich aus der Sensibilisierung für Menschenrechte, die Auswirkungen im Niedriglohnsektor nach sich ziehen wird, ein Produktionsrisiko. Laut der aktuellen ESG India Preparedness Survey von Deloitte rechnen 88 Prozent der befragten Unternehmen damit, dass ESG-Vorschriften Auswirkungen auf ihre Geschäftstätigkeit haben werden. Dementsprechend können sich Investoren in indischen ESG-Aktien, die sowohl auf eine robuste Stewardship als auch auf die Minderung von Unternehmensrisiken achten, eine gute Ausgangsposition verschaffen, um in den kommenden zehn Jahren von einem Wirtschaftsboom zu profitieren.